Heute vor 15 Jahren, so um halb elf Uhr abends, kroch ich aus meinem Bett in meiner Wohnung im Berner Felsenauquartier, tappte ins Wohnzimmer, kniete mich vor den Metalljesus an der Wand, sprach das Übergabegebet auf der letzten Seite des Buches «Jesus unser Schicksal» und wurde Christin.

Sinnsuche hüben und drüben

Kirchenrechtlich war ich das natürlich schon, aber meine Glaubenspraxis erschöpfte sich in der Kindheit in vereinzelten Stossgebeten und als junge Erwachsene im widerwilligen Besuch der Semestergottesdienste meiner Studentenverbindung. Was ich wirklich suchte, schien mir weder dort noch in dem zu finden zu sein, was man sonst so erreichen kann: «The meaning of life», wie es bei Monty Python heisst. Auf der Suche nach eben diesem Sinn befasste ich mich in meinen Zwanzigern in loser Folge mit Astrologie, Heilsteinen und Tarotkarten, oft im Schlepptau meiner jüngeren Schwester, die in regelmässigen Abständen eine neue Philosophie für sich entdeckte. Den ersehnten Sinn fand ich dabei allerdings nie. Als meine Schwester im Herbst 2003 schliesslich mit Jesus ankam, schien mir das zur Abwechslung etwas wohltuend Normales zu sein, und so besuchte ich in meiner üblichen Bereitschaft, ihre neuste weltanschauliche Entdeckung kennenzulernen, mit ihr einen Gottesdienst.

„Sektenalarm“ und musikalischer Donnerschlag

Nach den ersten Minuten war ich überzeugt, in einer Sekte oder in der ominösen Besserungsanstalt aus Stephen Kings «Talisman» gelandet zu sein: Professioneller Parkdienst! Alle im Anzug! Alle viel zu freundlich! Riesige Soundanlage! Plüschvorhänge und Teppichboden! Dann begann die Lobpreismusik. Ich fing an zu weinen und hörte erst auf, als es die Musik tat. Meine Neugier, mein Hunger und meine Sehnsucht nach dem Sinn, den ich vermisste, waren entfacht, und der Glaube, den meine Schwester lebte, zog mich an. Es gab nur ein Problem: Sie verkündigte Jesus als den einzigen Weg. Das war an sich nichts Neues; meine Schwester pflegte das, woran sie glaubte, immer auf diese Art zu verkündigen, und bisher hatte ich diesen Teil einfach ignoriert. Störenderweise schien Jesus aber in die gleiche Kerbe zu hauen, und je länger ich mich mit diesem Glauben beschäftigte, desto hartnäckiger bestand eine innere Stimme auf dieser  Ausschliesslichkeit – für einen analytisch veranlagten Kopfmenschen, der die eigene Überzeugung niemals über die eines anderen stellen würde, ein harter Brocken.

Auferstehung und «Arc» der Jünger

Beim Versuch, diesen zähen Brocken irgendwie herunterzubringen, kreisten meine Gedanken immer enger um die Auferstehung und um (Achtung: Autorensprech!) den «Arc» der Jünger Jesu. Vielleser wissen, was ich meine: Eine Geschichte funktioniert nur, wenn ich nachvollziehen kann, wie der Protagonist handelt. Passen seine Entscheidungen zu seinem Charakter, dazu, wie ich ihn bisher wahrgenommen habe? Über die Jünger berichten die Evangelien von einer zweifachen Kehrtwende: Während sie vor Golgatha selbstbewusst an der Seite Jesu Seite standen, verschwanden sie nach seiner Gefangennahme und Kreuzigung von der Bildfläche. Sie versteckten sich voller Angst, selbst verhaftet zu werden, und Petrus, sonst Grossmaul par excellence, verleugnete Jesus sogar. Dann, nur drei Tage später, tauchten sie plötzlich wieder auf, und von diesem Tag an verkündigten sie scham- und furchtlos Jesu Auferstehung und sein Evangelium. In den folgenden Jahrzehnten bereisten sie mit dieser Mission die ganze ihnen bekannte Welt. Berichten nach starben die meisten von ihnen einen Märtyrer-Tod.

Diese Männer hatten ihre Furcht von einem Tag auf den anderen hinter sich gelassen, und für mich gab es nur einen logischen Grund: Es musste etwas passiert sein, das sie von Grund auf verändert hatte. Eine Lüge, die sie sich und anderen erzählten, hätte niemals genug Kraft gehabt, um ihnen ihre Angst zu nehmen und sie furchtlos in die Welt hinausziehen, Christus verkündigen und für diesen Glauben Folter und Tod auf sich nehmen zu lassen. Die Auferstehung musste wahr sein, und wenn sie das war, dann glaubte ich auch alles andere, was Jesus über sich gesagt hatte. Und dann wollte ich den Schritt wagen. Was damals geschehen ist.

Glauben und Schreiben

Trotz meines Fundichristseins will ich in meinen Büchern und Texten nicht in erster Linie missionieren. Ich möchte spannende Geschichten erzählen, die Menschen ermutigen, berühren und zum Nachdenken anregen. Aber die Quelle  meiner Inspiration und der Grund, warum ich Menschen ermutigen und aufbauen will, ist Gott; er ist das Fundament meiner Weltsicht, die meine Bücher durchzieht: Dass die Hoffnung niemals stirbt, dass jeder Mensch Würde besitzt, einzigartig und wertvoll ist, dass jeder Mensch sich verändern, erneuern, heilen und zu dem werden kann, der er wirklich ist – geschaffen von dem Gott, der ihn unendlich und bedingungslos liebt. Und letztlich ist diese Botschaft der Grund, warum ich schreibe.

Der Weg mit Jesus – keine «Erfolgsstory», sondern tägliche Begegnung

Als ich mich damals entschied, diesen Weg zu gehen, war ich in vielerlei Hinsicht herausgefordert. Ich lebte in einer schwierigen Beziehung, ich trank zu viel Alkohol, und ich wusste auf dem Weg in die Mittdreissiger nicht, was ich mit meinem Leben eigentlich anfangen sollten. Und heute? Bin ich ein Mensch ohne Fehl und Tadel? Das sei fern, wie Paulus oft schrieb. Ich kämpfe jeden Tag mit mir selbst, mit Mustern aus alten Tagen, schlechten Gewohnheiten, die ich noch nicht los geworden bin. Aber Gott hat mich Schritt für Schritt aus inneren Gefängnissen befreit, mich auf neue Wege geführt und mein Leben von Grund auf erneuert. Er hat wichtige Entscheidungen möglich gemacht – unter anderem meine Entscheidung für ein Leben ohne Alkohol. Die Abstinenz hat meine Kreativität freigesetzt, und erst danach hatte ich die nötige Disziplin, das Durchhaltevermögen und vor allem den Glauben an mich und meine Gaben, genährt aus dem Wissen, dass Gott mich geschaffen und mir diese Talente mitgegeben hat, um in der Welt Spuren zu hinterlassen.

Wer ich heute bin, verdanke ich diesem Abend vor 15 Jahren und dem Gott, mit dem ich seit diesem Tag durchs Leben gehe. Und am heutigen Tag gehört dem allein mein Dank und die Ehre, der mich zu diesem Leben befreit hat. Zu einem freieren, erfüllteren und glücklicheren Leben, als ich es jemals hatte; kühner, furchtloser und voller Leidenschaft. In diesem Sinne: danke Jesus. Ich erhebe mein Glas Sanbitter auf weitere 15 Jahre, hoffentlich noch viele mehr auf Erden und auf die Ewigkeit mit Dir.

Gestern haben mein Mann und ich einen seiner Göttibuben besucht und ein paar gemütliche Stunden verbracht, und wie meistens haben sich unsere Diskussionen irgendwann auch um Gott gedreht. Thema waren dieses Mal unter anderem „Freikirchenchristen“, die kein Gespräch führen können, ohne die Zuhörer erschöpfend über den „richtigen Glauben“ aufzuklären. Die Reaktion unserer Freunde auf solche Sermone kann ich gut nachvollziehen: „Vielen Dank, das habe ich jetzt oft genug gehört. Jetzt will ich es sehen.“

Ich rede gern über Gott. Mein Herz ist oft voll von dem, was er in meinem Leben getan hat, in welchen Situationen ich schon erleben durfte, dass er mir beisteht, mich stützt und herausfordert. Aber wenn das alles ist, was andere mitbekommen, wird der Effekt meiner Worte rasch verblassen. Ich bin die einzige Bibel, die manche Leute jemals lesen werden. Wie ich mit mir selbst, mit anderen und mit der Schöpfung umgehe, gibt mehr Zeugnis von Gott als alle schönen Worte.

Gott fordert uns auf, den alten Menschen hinter uns zu lassen, uns zu prüfen und auf seine leise Stimme zu hören, die uns sagt, wenn wir unser Verhalten ändern müssen, und den Beweis treten wir im Alltag an. Im Job, im Umgang mit Vorgesetzten und Untergebenen. In der Familie. In der Art, wie wir mit dem umgehen, was uns anvertraut ist: Finanzen und Besitz, Beziehungen. Wie freigiebig bin ich mit meiner Zeit? Mit meinen Geld? Wie achtsam gehe ich mit meinem Besitz um? Wie geduldig bin ich mit anderen?

Wir werden alle an unterschiedlichen Punkten herausgefordert, und wenn wir schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben, kennen wir in der Regel unsere Schwachstellen und können uns einfache Dinge vornehmen. Ich habe ein Problem mit allem, was man unter „Instandhaltung“ zusammenfassen könnte – Ordnung halten, Haushalt und andere Routineaufgaben. Deshalb habe ich mir unter anderem vorgenommen, achtsamer mit meiner Kleidung umzugehen und mich auf Verpflichtungen, egal wie simpel sie sind, gewissenhaft vorzubereiten.

Solche Bemühungen sind wichtig, aber wir können leicht in die falsche Richtung abdriften. Wenn wir uns als Spiegel sehen, durch den Menschen (unter anderem natürlich) Gott erfahren, können wir den Zwang verspüren, perfekt zu sein. Da wir sehr wohl wissen, dass wir dies nicht sind, kommen wir in Versuchung, eine fromme Fassade zu präsentieren – sei es als Einzelpersonen oder als christliche Gemeinde.

Unsere Gemeinde macht gerade eine herausfordernde Zeit durch. Personen in wichtigen Funktionen sind an ihre Grenzen gekommen; es gab zwischenmenschliche Konflikte, und für manche ist das im Hinblick auf diese „Vorbildfunktion“ eine grosse Herausforderung. Was denken andere über uns, wenn so etwas auch bei uns vorkommt? Ist das nicht ein Beweis dafür Reverse Phone Lookup , dass wir „auch nicht besser“ sind?

Vielleicht ist es das, aber vielleicht ist das ganz gut. Denn wir sind tatsächlich nicht besser. Wir kämpfen mit den gleichen Problemen, mit denen jeder kämpft. Wir haben Beziehungsprobleme, verausgaben uns zu sehr im Job, geraten mit anderen in Streit. Was uns ausmacht, ist nicht, dass uns so etwas nicht passiert; es ist, wie wir damit umgehen. Stehen wir dazu? Sind wir bereit, einander zu vergeben, wenn wir in Konflikt geraten sind?

Ich habe kein Problem damit, anderen von unseren Herausforderungen zu erzählen, und ich zweifle deswegen weder an Gott noch an unserer Gemeinde. Ich sehe es als Chance zu mehr Echtheit, zu einer Vertiefung der Beziehungen, dazu, einzugestehen, dass wir auch Schwächen haben und uns nicht scheuen, sie zu zeigen. Und ich bin überzeugt davon, dass wir andere Menschen mit diesem Auftreten weit mehr anziehen, als wenn wir versuchen, ihnen die perfekte Gemeinschaft zu verkaufen.

Heute hatten wir unseren ersten Gottesdienst des Jahres, und er hat mich tief berührt. Trotz der Schwierigkeiten waren viele Menschen da, um gemeinsam das neue Jahr zu beginnen. Niemand, der da war, bildet sich ein, in einer perfekten Gemeinde zu sein; niemand hält es für nötig auszublenden, dass es gerade schwierig ist. Aber alle, die da waren, glauben an unsere Gemeinschaft.

Das hat mir Hoffnung gemacht und mir gezeigt, was uns von weltlichen Vereinen und Gruppierungen unterscheidet: Es sind nicht wir, es ist Gott. Gott kann sich auch in zerbrochenen, beschädigten Spiegeln reflektieren. Er zeigt uns, was er mit uns vorhat, und er ermutigt uns zu einem authentischeren Christsein, dazu, uns selbst und anderen zuzumuten, mit dem zerbrochenen Gefäss, das wir als einzelne und als Gemeinschaft sind, zu leben und uns von ihm heilen zu lassen.

Ich möchte sein Spiegel sein. Ich möchte mich jeden Tag herausfordern lassen, Jesus ähnlicher zu werden. Aber ich will es im Bewusstsein tun, dass Gott mich rückhaltlos annimmt, wie ich bin. Denn nur dann habe ich den Mut, andere auch meine Schwächen sehen zu lassen. Und nur dann bin ich nahbar und glaubwürdig.

 

 

 

 

„Früher war mehr Lametta!“

Wer kennt ihn nicht, den Klassiker von Loriot, in dem der Opa seinen Tufta-Marsch bis zum Abwinken auf dem Plattenspieler laufen lässt, der Vater mit dem Sohn „Atomkraftwerk“ spielt, bis „alle Häuser und alle Bäume und alle Kühe umfallen“ und die Mutter hundertmal sagt, dass „wir es uns jetzt richtig gemütlich machen“? Für den Fall, dass jemand „ich“ gerufen hat: Dieser kleine Spot gehört zu Weihnachten wie Fondue Chinoise und Weihnachtsbaum.

Heute ist Heiligabend, und Lametta gibt es bei uns nicht. Ehrlich gesagt auch keinen Baum. Da ich dieses Jahr im Dezember so viel loshatte, ist der einzige Hinweis auf Weihnachten in unserem Haus die Schale mit den Erdnüssen, den Mandarinen und der Schokolade und der Stapel einzupackender Geschenke.

Aber das macht mir nichts aus. Wenn ich Weihnachten von allem befreie, was sonst dazugehört –  was bleibt dann übrig, abgesehen vom „Kleinen Lord“, den wir uns gestern angesehen haben?

Das Beste natürlich. Kein glitzerndes Lametta, sondern Das Echte Licht.

Wie viele andere, deren Beiträge ich in diesen Tagen auf Facebook gelesen habe, kommt auch mir heute der denkwürdige Tag in den Sinn, an dem ich in meiner Dreizimmerwohnung aus dem Bett gekrochen bin, mich im Wohnzimmer vor meinen Metalljesus gekniet und den lebendigen Jesus gebeten habe, in mein Leben zu kommen. Solche Geschichten sind immer individuell, eine Sache zwischen uns und Gott; aber an jenem Tag, zwei Tage vor meinem 33. Geburtstag, hat er in mein Herz gesehen und gewusst, dass es mir ernst ist – dass ich erkannt habe, wie sehr ich ihn brauche, und sein Angebot annehmen will.

Seit dieser Entscheidung ist in meinem Leben viel passiert. Es wurde nicht einfacher, leichter, oder schmerzfrei, dafür freier und echter. Wenn ich fast vierzehn Jahre später eine Bilanz ziehen müsste, wie Gott ist und was ihn ausmacht, dann wäre es diese:

Gott ist treu. Und egal, was ich erlebt, erlitten oder verbrochen habe:
Er war da.

Als meine Mutter starb.

Als ich verlassen wurde.

Als ich mit dem Alkohol kämpfte und frei wurde.

Als ich meine Berufung fand.

Als Freundschaften zerbrachen und erneuert wurden.

Ich habe seine Gegenwart in den dunkelsten Stunden und in den grössten Freudemomenten erlebt, aber auch im Alltag, wenn ich mit einer Herausforderung kämpfte. In Zwiegesprächen auf dem Weg zur Arbeit, wenn ich ihm meine Sorgen hinlegte, ihn um Hilfe bat und plötzlich die Stimme in meinem Herzen hörte, die mir sagte, was zu tun war. Nicht immer waren es die Worte, die hören wollte; manchmal gingen sie gegen meine Gefühle oder gegen meinen Stolz. Aber immer, wenn ich getan habe, was ich zu hören glaubte, wurde etwas Gutes daraus.

„Mission“ hat einen unangenehmen Beigeschmack, egal, ob es um Ernährung, politische Ansichten oder Religion geht, aber bei Gott sind unsere Antennen am empfindlichsten, und man hat sich schnell über den Rand der „political correctness“ hinauskatapultiert. An diesem Tag, an dem wir die Ankunft Gottes auf Erden feiern, bin ich zutiefst dankbar, und diese Dankbarkeit will ich heute teilen und aussprechen, was jeden Tag auf meinem Herzen brennt.

Ich weiss, dass meine atheistischen und agnostischen Freunde mir das nicht übel nehmen – vielleicht schreiben sie einen kritischen Kommentar unter meine Ergüsse, aber an unserer Freundschaft wird sich nichts ändern. Ich weiss auch, dass meine „glinus“-Freunde (ein nicht ganz ernst gemeinter Ausdruck, er heisst „gläubig in unserem Sinne“) mein Plädoyer und meine Worte sicher unterschreiben. Aber an beide richte ich mich heute nicht.

Ich richte mich an Dich, der Du glaubst, dass das Leben mehr ist als das, was wir jeden Tag sehen.
An Dich, die Du glaubst, dass da noch etwas sein könnte, aber nicht weisst, ob Du es Gott nennen sollst.
An Dich, der Du irgendwie an Gott glaubst, ihm aber nicht recht über den Weg traust und nicht willst, das jemand in Dein Leben hineinredet.
Und an Dich, die Du glaubst, dass Gott – sollte es ihn geben – an Dir kein Interesse hat und sich noch nie um Dich gekümmert hat.

Euch allen möchte ich sagen: Ja, Leben ist mehr. Da ist etwas oder besser jemand, und es ist Gott. Du kannst ihm vertrauen, er hat Interesse an Dir. Und er war immer da.

Ich habe nicht so viel Schlimmes erlebt wie manch einer und Schlimmeres als manch anderer. Aber ich weiss heute, dass er mich nie allein gelassen hat. Ich weiss mich getragen und geführt, denn ich folge einem Licht. Keinem der vielen Irrlichter, die sich an der Sehnsucht des Menschen berauschen und ihn ins Dickicht führen, um ihn dort verhungern zu lassen, sondern einem stillen und steten Schein, der mich wärmt und leitet. Er zeigt mir nicht immer das Ziel, aber die nächsten Schritte, und mehr brauche ich nicht.

Jesus ist „Immanuel“, Gott mit uns. Er will in jedem Menschen leben. Wie wäre es mit einem Versuch? Zweifel sind kein Stolperstein. Manch ein Gebet eines neuen Christen begann mit den Worten: „Jesus, wenn es Dich wirklich gibt…“

Ich lasse Euch jetzt in Euren eigenen Heiligabend ziehen, mit der unvergleichlichen, schönsten und ergreifendsten Version von „Stille Nacht“, die ich kenne – die von Mahalia Jackson, die für uns zu Weihnachten gehörte.

Ich wünsche Euch innige Stunden mit geliebten Menschen,
ein paar stille Momente der Ruhe und Andacht,
ein feines Essen und einen schönen Film, wenn Euch danach ist.
Und Gottes Segen.

 

 

 

Ich habe lange keinen Snack mehr fabriziert – dafür ein heftiges Mea Culpa! Grund dafür war nichts Tragisches, sondern dass ich intensiv an der Überarbeitung meines Buches werkle und auch sonst viel läuft. Heute will ich endlich wieder einmal ein paar Gedanken teilen, und vielleicht wird es etwas schwer verdaulich, denn es geht um das Thema Zerbruch.

Wann wird aus einem Problem eine Krise, wann aus der Krise der Zerbruch? Wenn das Fundament unseres Lebens wankt oder bricht, wenn das, worauf wir unsere Identität bauen und woraus wir unsere Kraft ziehen, Gefahr läuft, sich in Nichts aufzulösen.

Wenn man diese von mir fabrizierte Definition liest, könnte man sich als Christ auf die fromme Wolke setzen und behaupten, dass der oder die Zerbrochene auf ein falsches Fundament gebaut hat. Ist nicht das einzige, was uns wirklich trägt, Gottes Liebe und der Wert, den wir aus seiner Liebe zu uns geschenkt bekommen haben, der Wert, den niemand uns nehmen kann?

Frei nach Radio Eriwan: Im Prinzip Ja. Aber seien wir ehrlich: Niemand lebt nur aus Gottes Liebe, und auch wenn wir fest in dieser Liebe verwurzelt sind, haben wir alle auch andere Bereiche im Leben, die für unser inneres Gleichgewicht und unser Wohlergehen wichtig sind.

Zerbruch deutet darauf hin, dass nicht nur eine, sondern alle Grundlagen wanken – oder zumindest alle, die für uns von Bedeutung sind. In manchen Fällen kann so auch der Zerbruch einer einzigen Grundlage unser ganzes Leben ins Wanken bringen.

Ich habe einen solchen Zerbruch vor über zehn Jahren erlebt, als eine Beziehung zu Ende ging. Alles andere in meinem Leben – meine Familie, meine Arbeit, meine Beziehung zu Gott – blieb damals bestehen, aber es half nichts, weil ich meinen Lebenssinn, meine Identität und meinen Wert daraus bezog, dass ich einen Partner hatte, mit dem ich gemeinsam in die Zukunft blicken konnte. Als er mich verliess, war diese Grundlage verschwunden, und ich blickte ins wüste Nichts. Ich konnte mir nicht vorstellen, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen ohne einen Menschen, der mein Leben teilte, und so sehr ich mich auch bemühte, an dieser Idee gefallen zu finden: Es funktionierte nicht.

Einige Zeit nach der Trennung machte ich einen Trip zu Ikea und kaufte unter anderem zwei identische Tassen, auf denen riesige, rot-violette Herzen prangten. Das kitschige Design hatte es mir angetan, und ich stellte mir vor, dass diese Tassen das Symbol für die nächste Beziehung seien, die Gott schenken würde. Irgendwann in nicht so ferner Zukunft – so meine Hoffnung – würde ich mit einem geliebten Menschen aus diesen Tassen trinken und glücklich sein. Aber als ich Zuhause meine Sachen auspackte, fiel eine der Tassen auf den weissen Plattenboden und zerbrach.

Es war nur eine Ikea-Tasse, aber in dem Moment war diese Tasse weit mehr. Mit ihr zerbrach mein Traum und meine bisher einzige Strategie, Glück und Geborgenheit zu finden. Der lächerliche Verlust traf mich tief, und heute glaube ich, dass Gott erst in diesem Moment mit der Botschaft zu mir durchdrang, die er mir seit dem Ende der Beziehung hatte geben wollen:

«Ich habe für Dich im Moment keinen Partner. Lass mich dieser Partner sein.
Richte Deinen Blick jetzt auf mich, und alles andere wird sich weisen.»

In den kommenden anderthalb Jahren lernte ich, mein Leben auf andere Grundlagen zu stellen; nicht auf einmal, sondern Tag für Tag mehr. Irgendwann kam der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich mein Leben tatsächlich auch ohne Partner lebenswert und wertvoll fand. Ich war damals 36 Jahre alt, und das erste Mal glaubte ich, dass ich auch glücklich sein konnte, wenn nie mehr ein Mann in mein Leben treten würde. Es war der Moment, in dem mein neues Leben anfing.

Es hat sich dann doch noch ein Mann gefunden, der es wagen wollte, und ich bin glücklich darüber. Aber ich bin noch glücklicher darüber, dass ich nicht geheiratet habe, weil er der letzte sein könnte, der Interesse zeigt, oder – ganz nach «When Harry met Sally» – damit ich sagen konnte, ich war verheiratet, sondern weil es richtig war.

Mein Zerbruch damals war massiver, als es von aussen ausgesehen haben mag. Alles, was ich gewesen war, lag in winzigen Scherben vor mir; ich konnte es nicht mehr zusammensetzen. Und das war gut so. Denn hätte nur eine Ecke gefehlt, hätte ich sie einfach wieder angeklebt, so gut es ging. So aber konnte Gott das Material nehmen und neu zusammensetzen, etwas daraus machen, das ich vorher nicht gesehen hatte.

Bin ich ganz anders aus der Krise herausgekommen? Oberflächlich betrachtet vielleicht nicht. Aber in meinem Kern hat sich etwas Tiefgreifendes verändert, und diese Veränderung trägt mich bis heute. Sie führt dazu, dass ich meine Entscheidungen nicht aus Angst treffe, etwas zu verlieren, denn was am wichtigsten ist, kann mir niemand nehmen.

Aus wem oder was ich Sinn und Wert beziehe, das prägt und kontrolliert mich. Wenn mein Wert daran hängt, wieviel Geld ich habe, schiele ich ängstlich auf den Kontostand. Hängt er an meinem Partner, bemühe ich mich angestrengt, ihn oder sie bei Laune zu halten, und treffe vielleicht falsche, aus Verlustangst getriebene Entscheidungen. Hängt mein Wert an meinem beruflichen Erfolg, setze ich mich täglich unter Druck, besser zu sein als andere.

Wenn ich meine Identität in Gott finde, der mich geschaffen hat, und im Wert, den er mir gegeben hat, kann ich mein Leben freier und kühner leben. Ich werde dennoch auf meinen Kontostand achten, werde zu meiner Partnerschaft Sorge tragen und in dem, was ich tue, mein Bestes geben, aber ich tue es nicht aus Angst, sondern weil es das Richtige ist, im Wissen, dass nicht alles, was geschieht, in meiner Macht liegt.

Nicht immer wird das Zerbrochene wieder ganz werden. Aber wenn ich bereit bin, Gott die Dinge zusammensetzen zu lassen, kann etwas Neues entstehen – ich kann neu erstehen.

Jedem, der im Moment Zerbruch erlebt, möchte ich diese Worte zusprechen.

Vor kurzem habe ich erfahren, dass der Immobilienmarkt heute mit sogenannten Visualisierungsprogrammen arbeitet. Diese faszinierende Technik, die auch auf Aussenbereiche wie Parks angewendet wird, hat mich von Anfang an begeistert, dann aber noch ganz andere Gedanken in mir ausgelöst.

Was hat es mit dieser Visualisierung auf sich? Vielen Menschen fehlt es an räumlichem Vorstellungsvermögen. Wenn sie sich Bilder einer älteren Immobilie ansehen, können sie den Status quo nicht ausblenden und sehen deshalb die Möglichkeiten nicht, die in der Immobilie stecken. Eine mit Möbeln überfüllte Wohnung verdeckt den grosszügigen Grundriss; in einer anderen hängen dicke, lange Vorhänge vor der breiten Fensterfront.

Während ein Visualisierungsprogramm die Wohnung oder das Haus ins beste Licht rückt, zeigt es gleichzeitig die Veränderungs- und Erneuerungsmöglichkeiten auf. Wie sieht das Wohnzimmer jetzt aus, und wie könnte man es umbauen? Wie könnte eine neue Küche, ein neues Bad in dieser Wohnung aussehen? Welche Räume könnte man umbauen und umnutzen? 360-Grad-Bilder vermitteln einen faszinierenden Eindruck davon, wie beispielsweise aus einer biederen Endachtziger-Wohnung ein lichterfülltes, modernes Apartment entstehen könnte.

Eine vielversprechende Geschäftsidee. Doch in der Idee steckt für mich etwas noch Befreienderes und Hoffnungsvolleres, das sich auf unser Bild von uns selbst und Gottes Bild von uns übertragen lässt.

Oft sehen wir in unserem Leben nur das, was ist und das, was war – ob gut oder schlecht. Wie Kratzer im Parkett oder Flecken an den Wänden registrieren wir die Wunden und Narben, die das Leben uns zugeteilt hat. Die vielen Möbel in unserer Wohnung, die den grossen Grundriss verdecken, sind die (zu) zahlreichen Verpflichtungen oder Projekte, mit denen wir uns verzetteln und überanstrengen, ohne es zu merken. Die Vorhänge können ein Job sein, der gutes Geld bringt, aber eigentlich nicht zu uns passt und uns die freie Sicht auf unsere wahren Wünsche verdeckt. Wir haben Mühe, hinter dem Status quo zu entdecken, was in unserem Leben möglich ist.

Nicht so Gott. Er sieht hier und heute alle Optionen – auch die, die wir uns nie erträumt hätten. Er öffnet unseren Blick für das, was sein könnte, und schenkt uns damit die Kraft, die nötigen Schritte in Angriff zu nehmen. Vielleicht brauche ich eine Weiterbildung, um den Traum der Selbständigkeit zu verwirklichen. Vielleicht brauche ich eine Therapie, um Geschehenes zu verarbeiten. Vielleicht muss ich mich meiner Bitterkeit stellen und Menschen vergeben, um frei zu werden. Gott sieht es und zeigt es mir.

Das bedeutet nicht, dass ich im Status quo nicht genüge. Gott hat ein volles und herzhaftes Ja zu mir, und in diesem Wissen darf ich mich geliebt, angenommen und aufgehoben fühlen. Aber ich darf gleichzeitig glauben, dass ich mich verändern kann und soll – nicht, weil Gott noch nicht zufrieden ist, sondern weil er mich in den Menschen umgestalten will, der ich wirklich bin; in den Menschen, den er sich erdacht hat und den das Leben mit allen Dellen und Schlägen teilweise verformt, verhärtet und verwundet hat.

Gott sieht uns ganz – was war, was ist, was kommt. Er nimmt uns mit in die Zukunft, die er bereithält, wenn wir ihm vertrauen und uns durch ihn und durch die Menschen, die uns begegnen, verändern lassen. Dafür will ich offen sein. Ich entdecke immer wieder Seiten an mir, die noch nicht frei sind; die will ich Gott hinhalten und mich von ihm verändern lassen. Ich vertraue ihm, weil ich in meinem Leben die Kraft der Veränderung erkennen kann, die von ihm kommt.

Und ich will anderen als Geburtshelfer dienen. Auch in unseren Beziehungen konzentrieren wir unseren Blick oft nur auf das, was war, und das, was ist. Das hat eine gute Seite, wenn wir den anderen annehmen, wie er ist, aber es hat auch eine pessimistische. Jeder hat Verhaltensweisen, angeboren oder entstanden durch Verletzungen, die das Zusammenleben erschweren, schädigen und schlimmstenfalls Beziehungen zerstören. Wenn wir diese Verhaltensweisen einfach als gegeben betrachten, schaden wir den Beziehungen untereinander und zementieren den Status quo. Wir resignieren und sagen im Grunde, dass wir dem anderen – und damit auch Gott – nicht zutrauen, sich zu ändern.

Ich brauche Gottes Visualisierungsprogamm für mich selbst und für meine Mitmenschen. Ich will diese neue Sicht, will das, was durch ihn möglich ist, in mir und anderen Menschen sehen und an diesem Bild festhalten. Ich will andere Menschen durch mein hoffnungsvolles Bild ermutigen und freisetzen. Denn wir alle brauchen Menschen, die uns zwar annehmen, wie wir sind, die aber auch sehen, was noch werden kann.

Gerade habe ich mir einen österlichen Videoclip angesehen. Zum Hymnengesang des Mormon Tabernacle Choir ersteht Jesus von den Toten, sieht dabei aus wie ein weisser American Football Star und segnet im leuchtenden Gewand die Massen; alles dermassen kitschig, dass es zumindest mich nicht besonders berühren kann – wären da nicht die Wundmale. Die Wundmale am Leib des Auferstandenen.

Jesu makelloser Auferstehungsleib trug immer noch Löcher an den Stellen, an denen er „wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden“  durchbohrt wurde, wie es bei Jesaja heisst. „Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Dieses Bild rührt und bewegt mich mehr, als ich artikulieren kann. Es verbindet den Triumph der Auferstehung mit dem dafür erduldeten Leiden und schafft Raum für die tiefe Wahrheit, dass es den Triumph ohne das Leiden nicht gibt, aber auch dafür, dass der Triumph nun endgültig, der Tod trotz der Wundmale besiegt ist.

In diesem Bild liegt eine Spannung, die manchmal schwer zu ertragen ist, und  manchmal lösen wir die Spannung auf, indem wir eine der beiden Seiten ausblenden. Lange Zeit wurde im traditionellen europäischen Christentum das Leiden in den Vordergrund gestellt. Der Lohn dieses Leidens auf Erden wartet dabei im Himmel, und der Triumph der Auferstehung rückt in die Ferne. Diese Richtung malt ein trockenes, hoffnungsloses Bild des Christenlebens auf Erden; ein Leben, in dem Wunder und Verheissungen wenig Platz haben.  Es ist ein Bild der Pflichterfüllung, in dem Leiden, die mich treffen, einfach anzunehmen sind – der Herr will es so, so sei es.

Heute ist dieses trocken-düstere Bild stark in den Hintergrund gerückt. Seit mehreren Jahren liegt der Schwerpunkt der tonangebenden Freikirchen auf der Auferstehung ohne das Leiden. Jesus trägt keine Wundmale; das Leiden wird ausgesperrt und verdrängt. Gott will alle heilen, und wenn Heilung auf sich warten lässt oder gar ausbleibt, ist es sicher nicht Gottes Schuld, sondern meine.

In dieser Theologie ist alles möglich, und mit ihrer Hilfe wollen wir das auch. Wir wollen mehr, aber nicht mehr Gott, sondern mehr Wunder, mehr Heilung, mehr Segen, mehr Bekehrungen und am Ende die Weltherrschaft.

Diesem Bedürfnis, die Spannung aufzulösen, liegt in beiden Fällen Angst zugrunde. Während die einen Angst vor der Macht und Verantwortung haben, die uns in der Auferstehung gegeben wird, haben die anderen Angst vor der Unsicherheit und Machtlosigkeit, die im Leiden liegt. Aber Auferstehung und Leiden gehören zusammen: Die Wundmale an den Händen des Auferstandenen waren da; in der triumphalen Ankunft des wahren Lichts, des Weissen, des Guten trug der Herr die Wunden des Leidens, das diesen Triumph ermöglichte.

Wenn wir uns nur auf das Leiden konzentrieren, nehmen wir die Macht und Autorität, die wir als Christen durch Jesu Tod und Auferstehung erhalten haben, nicht in Anspruch und werden unserer Aufgabe nicht gerecht. Aber wenn wir uns nur auf die Wunder und den Triumph konzentrieren, blenden wir aus, dass die Welt, in der wir leben, nun mal nicht ganz von Gottes Reich durchdrungen ist. Es ist da und nicht da; es bricht an immer mehr Orten und immer häufiger an, aber nicht vollständig.

Die Zeit, in der ALLE Tränen abgewischt werden, wird erst erfüllt sein, wenn der Herr wiederkommt. Bis dahin müssen wir diese Spannung ertragen und dürfen in unserer Theologie auch das Leiden nicht vergessen – die Fragen ohne Antwort, die Krankheit ohne Genesung. Ja, Gott ist alles möglich. Ja, er will unser Bestes. Aber daraus abzuleiten, wir wüssten genau, was passieren muss, und damit unsere menschlichen Wünsche den Absichten Gottes aufzudrücken, ist anmassend.

Gott ist mehrere Nummern grösser. Er hört, erhört unsere Gebete, aber was er tut oder nicht tut, werden wir nicht immer verstehen. So sehr wir uns danach sehnen mögen: Es gibt kein Rezept dafür, irgendetwas von Gott zu bekommen, und wer solche Rezepte verkauft, nützt nur sich selbst. Der Glaube an Gott ist kein Rezept für unser Glück auf Erden, die Erfüllung all unserer Wünsche. Glaube ist Beziehung zum Allmächtigen; ihm nachfolgen, in Triumphen und im Scheitern. Und allfällige Allmachtphantasien abzugeben.

An diesem Ostermontag umarme ich beide Interpretationen der Wundmale – die Erinnerung an das Leiden, aber auch den Beweis des Triumphs über den Tod. Ich umarme die Spannung, dass Gott alles möglich ist und ich sein Werkzeug zu Grossem sein darf, dass ich manchmal aber auch mit jemandem in der Dunkelheit ausharren soll.

Heiligabend ist da, und wie jedes Jahr will ich zu diesem Freudentag ein Post verfassen. Aber einfach ist es dieses Jahr nicht. Die Welt wirkt zerbrochen, und das nicht nur wegen des Terrors, dwe diese Vorweihnachtswoche überschattet hat.

Wir möchten die Geschichte der Menschheit als aufwärtsführenden Pfad sehen, auf dem sich der Mensch Stück für Stück weiterentwickelt. Aber obwohl der Mensch in bestimmten Epochen immer wieder über sich hinausgewachsen ist und die weltweiten Zahlen zu Kindersterblichkeit, Ausbildung und extremer Armut heute viel besser aussehen als vor 200 Jahren, lässt mich der Blick in die Jahrhunderte, in die jüngste Vergangenheit und auf die Gegenwart ernüchtert zurück. Wenn ich mir die Kriege und Greuel seit dem Zweiten Weltkrieg, die nackte Gier und den explodierenden Kommerz in der westlichen Welt ansehe, komme ich zu einem bitteren Schluss.

Weder Aufklärung noch wissenschaftlicher Fortschritt noch die durch Globalität verblassenden Grenzen haben den Menschen im Grunde seines Herzens verändert. Ja, er ist fähig zu Güte, zu Grosszügigkeit und Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, aber im tiefsten Grund seines Herzens sieht er nur sich selbst und ist oft nicht willens, sich nur ein Jota in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Und die wissenschaftlichen Fortschritte haben dieses Wesen voller Machtstreben, Egoismus und Gier mit abertausenden neuer Möglichkeiten ausgestattet, seinen Willen durchzusetzen und andere zu unterdrücken oder zu vernichten.

An diesem Heiligabend 2016 sehe ich eine Welt in Trümmern, die sich vor Schmerzen windet. Eine Welt, die beweist, dass es mit der Sapientia des homo sapiens nicht weit her ist.

Und doch gibt es Gründe, gerade jetzt Weihnachten zu feiern.

Auch die erste Weihnacht ist in eine Zeit und eine Region des Aufruhrs gefallen. Gott hat nicht auf einen schönen und erhabenen Moment der Menschheitsgeschichte gewartet, um sich zu uns zu begeben – er kam mitten in das Chaos hinein.

Und so bedrückend und beängstigend wir diese Zeit empfinden mögen: In der Erkenntnis der menschlichen Grenzen und der menschlichen Widerborstigkeit, der sich wiederholenden Zyklen in der Menschheitsgeschichte, liegt ein gleichzeitig ernüchternder wie befreiender Gedanke: Der, dass unser hehres Geschlecht der Aufrechtgehenden, so sehr es das auch versucht, sich nicht selbst erlösen kann.

Und wir versuchen es unaufhörlich. Der moderne Mensch, der sich meist weigert, an einen Gott zu glauben, der ihn erlösen muss, lebt nicht frei und fröhlich vor sich hin, sondern verdammt, rechtfertigt und erlöst sich selbst in einem fort. Dieser Gedanke ist nicht von mir; ich habe ihn aus einem Blogbeitrag von Christof Lenzen, der ihn wiederum aus einem Vortrag von Andreas Malessa hat.

Der Mensch braucht auch keine Hölle mehr, denn er lebt bereits in einer. Er steht unter dem Druck, ein Leben zu leben, das „Erfolg“ ausstrahlt, er versucht, all den zivilisatorischen Regeln zu folgen, die mindestens so religiös verbrämt daherkommen wie die Zehn Gebote, und weil er nicht genügen kann, muss er sich immer wieder freisprechen. Das ist anstrengend, und vor allem funktioniert es nicht. Und genau hier liegt die harte, aber befreiende Erkenntnis:

Wir brauchen Gott.  Allein können wir es nicht und werden es nie können.

Aber wir müssen auch nicht, denn genau das bedeutet „Gnade allein“. Und an Weihnachten folgt, passend zum anstehenden Luther-Jahr, neben dem „Sola Gratia“ der Blick auf die Krippe, auf das „Solus Christus“. Nur Christus kann uns erlösen, nur durch ihn haben wir den Zugang zum Vater, die Erlösung der Sünde. Diese Aussage kann einengend und selbstgerecht wirken, aber diese Selbstgerechtigkeit wird dadurch aufgehoben, dass dieses Angebot allen Menschen gilt.

Ich feiere heute auch meine eigene Begegnung mit Jesus. Ich feiere, dass ich in den Jahren, in denen ich ihm in all meiner Unbeholfenheit und Widerborstigkeit gefolgt bin, schon viel Befreiung habe erleben dürfen. Was ich über das Menschengeschlecht gesagt habe, trifft auch auf mich zu – ich kann bösartig, rechthaberisch, egoistisch und ungeduldig sein und kann auf andere herunterblicken, und manchmal fällt mir das leichter, als gütig und geduldig zu sein. Aber immer dann, wenn Güte, wenn Liebe für meine Mitmenschen ohne Ansehen von Rang, Rasse oder Religion natürlich aus mir herausfliesst, weiss ich, dass Gott in mir wirkt.

Mehr als alles andere wünsche ich mir, dass die Angst und das Dunkel dieser Zeit Menschen zu Gott führen. Dadurch wird nicht sofort alles anders, aber wenn Menschen sein Angebot annehmen, sich berühren, heilen und verändern lassen, dann besteht Hoffnung für die Zukunft.

Wir können nicht, aber ER kann. ER kann in UNS. Und je mehr wir uns von ihm leiten lassen, desto stärker wird sein Reich sichtbar.  Wo die Welt aufklafft, wo sich Wunden auftun, öffnet sich auch immer Raum für das Licht. Das Licht, das von ihm kommt, das Licht, das uns vor zweitausend Jahren erschienen ist. Das Echte Licht.

Ich wünsche Euch allen eine segensreiche, lichtvolle Weihnachtszeit.
Be blessed!

Ich bin immer noch tief in die Windungen meines Romans verstrickt, aber letzte Woche habe ich einen großen Schritt auf der  Zielgeraden getan: Ich habe meinen Halbgarentwurf beendet und das erste Mal in dicken, fetten Lettern „ENDE“ geschrieben. Damit habe ich  das „Happily Ever After“ erreicht, auf gut Deutsch das „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende“, in Kurzform: das HAPPY END.

Die meisten Romane, die nicht der Hochliteratur zugerechnet werden, bedienen sich eines Happy Ends. Es garantiert nicht, dass alle, die man liebgewonnen hat, noch leben, und es kriegt auch nicht jeder das, was er zu wollen meinte. Aber oft wird der Gerechtigkeit Genüge getan: Gute und böse Handlungen haben ihre Konsequenzen, und da Romanhelden in der Regel zwar Schwächen besitzen, aber prinzipiell als gute Menschen konstruiert sind, kriegen sie am Ende auch etwas für ihre Tugend.

Ja, das Happy End hat sich seit tausenden von Jahren bewährt, und die Nachfrage steigt.

Weil die Realität uns arg im Stich lässt.

So oft scheint das Böse zu siegen. Gute Menschen werden krank und sterben, eine Laune des Schicksals oder ein Fanatiker entreißt jemandem seine Liebsten, und wir können dahinter auch unter grössten spirituellen Verrenkungen kein Milligramm kosmische, globale oder persönliche Gerechtigkeit ausmachen.

Umso mehr wollen wir, brauchen wir das Happy End, und  umso lauter meldet sich eine kleine, ängstliche Stimme in uns zu Wort.

Wie ist es mit mir?

Kriege ich mein Happy End?

Was heißt das überhaupt? Wenn ich den Ausdruck auf mein Ende beziehe, wünsche ich mir, was sich alle wünschen: Geistig wach, gesund und schmerzfrei alt werden zu dürfen und irgendwann einzuschlafen; am liebsten so, dass ich spüre, wenn das Ende naht,  und mich noch von denen verabschieden kann, die mir wichtig sind und denen ich am Herzen liege.

Oft meinen wir mit dem Happy End aber mehr als ein geordnetes physisches Ende auf Erden. Wir fragen uns, ob sich unsere Träume erfüllen, ob unsere Liebsten behütet bleiben, ob wir von Schmerz und Krankheit verschont bleiben. Und wir wissen es nicht. Natürlich können wir auf unsere Gesundheit achten, unsere Mitmenschen gut behandeln und im Job unser Bestes geben. Aber wir können nicht oder nur begrenzt beeinflussen, ob die Firma in Konkurs geht, ob der Partner bei uns bleibt und ob unsere Kinder einen guten Weg einschlagen. Das, was man im Roman so schön konstruieren kann, ist im Leben nicht kontrollierbar, und wir können uns nicht auf eine solche Gerechtigkeit verlassen.

Das Wissen darum, dass wir es nicht wissen und nicht auf den letzten Punkt  beeinflussen können, kann ein Gefühl der Machtlosigigkeit auslösen und ist einer der Gründe, warum sinnstiftende Weltbilder so anziehend sind. Wir sehnen uns nach einfachen Konstrukten, die unsere Fragen beantworten. Doch leider werden viele dieser Gebilde gerade wegen ihrer Einfachheit der Wirklichkeit nicht gerecht. Sie funktionieren nicht und produzieren neues Unrecht.

Und manche sind nur grausam.  Wie vergiftet ist eine Lehre, die mir oder meinen Liebsten die Schuld an deren Tod aufbürdet, weil wir in einem früheren Leben böse waren? Die mir sagt, dass ich für meine Krankheit verantwortlich bin, weil ich zu wenige gute Gedanken habe? Dass ich arm bin, weil ich zu wenig „Reichtum denke“?

Die Wahrheit ist anders. Schmerzhafter. Spannungsreicher.

In einem der alten „Readers Digest“, die meine Eltern auf dem Gästeklo aufbewahrten, stand eine lustige Geschichte: Demnach beauftragte eine populäre Zeitschrift einen renommierten Wissenschaftler mit der Erstellung eines Artikels zur Frage „Gibt es Leben auf anderen Planeten?“ Umfang: 500 Wörter.

Er schrieb 166 mal „Das weiß niemand.“

Genauso sieht am Ende die Antwort auf all die quälenden Warum-Fragen aus, die wir uns manchmal stellen: Wir wissen es nicht. Schmerz und Spannung müssen ausgehalten werden, und alle, die mit einfachen Erklärungen kommen, machen uns und vielleicht auch sich selbst etwas vor.

Ich hätte gern eine endgültige Gerechtigkeit, und in einem transzendentalen Sinn glaube ich an sie. Jemand Areligiöses würde sagen, dass ich mich mit meinem Glauben an einen Gott und an die Ewigkeit in seiner Gegenwart tröste, und aus seiner Warte hätte er damit natürlich Recht. Angesichts dieser aus den Fugen scheinenden Welt ist Gott tatsächlich meine Bastion. In ihm und der letzten Gerechtigkeit ruhe ich, wenn alles andere verrückt und verrückter scheint. Und seinetwegen treiben mich die Fragen nach meinem Happy End, nach dem, was morgen geschieht, nach der Frage des „Was wäre wenn“ und „Erfüllen sich  meine Träume“ nicht so sehr um und rauben mir den Frieden nicht. Denn egal, was kommt, welcher Traum sich erfüllt, welche Ängste wahr werden – er wird immer da sein.

Zeiten wie diese, ob auf persönlicher oder globaler Ebene, können kostbare Perlen hervorbringen: Die Einsicht, dass es jemand Größeren gibt, dem wir vertrauen dürfen, und die Erkenntnis, dass jeder Tag des Lebens unglaublich kostbar ist und niemals wiederkommt.

Den Glauben an einen Gott kann man niemandem aufzwingen – schon gar nicht in Zeiten, in denen Mörder seinen Namen für ihre Zwecke missbrauchen. Aber lasst uns dieses kleine Credo verinnerlichen:

GrindelwaldDas Leben ist kostbar.
Jeder Tag davon.
Und am kostbarsten ist es genau heute.

Lasst es uns genießen. Lasst uns lieben, und lasst uns vergeben. Lasst uns lachen und tanzen, essen und trinken und das Leben feiern. Und ob wir an ihn glauben oder nicht: Auch damit ehren wir Gott.

 

Ich bin ein eher  „temperierter“ Mensch und gerate selten in die Höhen und Tiefen der Emotionalität. Wenn es passiert, dann oft über Bücher und Filme – und manchmal überrascht mich dann die Heftigkeit meines Gefühls. So wie diese Woche.

Ich hatte mir den zweiten Teil der Trilogie „Die Bestimmung“ angesehen, ein Science Fiction Film über eine Welt, in der Menschen im Alter von 16 Jahren gemäss ihrem Charakter und ihren Gaben mittels eines Simulationstests in sogenannte Fraktionen eingeteilt werden und dort gemäss der Devise „Fraktion vor Blut“ ihr Leben verbringen. Es gibt die kühnen, kampfesfreudigen Ferox, die selbstlosen Altruan, die smarten Kem, die ehrlichen Candor und die friedfertigen Amité. Doch die Heldin des Films wird auf mehrere Fraktionen positiv getestet und ist damit eine Unbestimmte. Damit beginnt ihr Abenteuer, denn die Unbestimmten gelten als Problem.

Ich will nicht mehr ins Detail gehen, falls sich jemand die Trilogie noch ansehen wird, und ich versuche auch nicht zu spoilern, denn eigentlich geht es nur am Rand um den Film. Als der zweite Teil seinem Ende entgegen geht, kommt eine Szene, in der die Menschen die ihnen bekannte Welt und ihre Grenzen verlassen, um sich mit Menschen jenseits dieser Grenzen zu verbünden.

Diese Szene hat mich mit einer Sehnsucht erfüllt, die heftig mit der Realität zusammengeprallt ist – und das Resultat war, wie ich es nennen will, der herzzerreissende Schmerz über die unerlöste Schöpfung.

Einen Moment hatte ich das Gefühl, das alles, was in unserer Welt kaputt, böse und verdorben ist, mich körperlich und seelisch quält. Es war, als würde ich vor einem kleinen Globus knien, darauf all den Hass und Hunger, das Elend und den Egoismus, die Gier und die Gewalt sehen und nur darüber weinen können.

Wann wird es anders? Wann dürfen wir Frieden, Liebe, Gerechtigkeit sehen? Müssen wir wirklich warten, bis Jesus wiederkommt?Was können wir tun, um Gegensteuer zu geben?

Es gibt seit Adam und Eva Licht und Schatten, Gut und Böse, aber in den letzten paar Jahren scheinen sich die  Gegensätze zu verschärfen, die Widerwärtigkeiten immer widerwärtiger zu werden. Es ist, als ob die Welt in ihren Grundfesten erzittert. Gleichzeitig ruft das genau dieses Sehnen hervor und verstärkt es noch – dieses irrationale Sehnen nach Weltfrieden und Nahrung für alle und Gewaltlosigkeit und allem, was gut ist.

Egal ob Christ oder nicht – ich glaube, wir sehnen uns alle nach dieser Welt. Und so sehr ich daran glaube, dass die Schöpfung eines Tages erlöst wird, so sehr bin ich entschlossen, dieses irrationale Sehnen nach dem grossen Frieden in praktische Handlung umzugiessen. Und so bin ich wieder an dem Punkt, wo ich für mich festhalte, was ich tun kann und will.

Unter dem Motto Frieden will ich Akzeptanz und Verständnis für andere leben und dort, wo ich die Verantwortung habe, diese Kultur fördern.

Unter dem Motto Versorgung will ich in meinem Umfeld grosszügig sein und ein Ohr für die feine Stimme haben, die mir sagt, wo ich helfen kann.

Und ich will mich nicht fürchten.

Kürzlich bin ich auf dem Freitagsmarkt einer Schulfreundin begegnet, die dem muslimischen Glauben angehört. Über unseren Einkäufen sind wir über Gott und die Welt ins Gespräch gekommen, und sie hat gesagt, dass wir unseren Glauben an Gott ab und zu an unserer Furcht messen sollten. Ich will mich von diesem Gedanken herausfordern lassen.

Und ich will den „Weltschmerz“ umarmen. Dieser Schmerz zeigt mir, dass ich lebe, und beweist mir, dass ich mich nicht nur um mein eigenes kleines Leben drehe. Gleichzeitig macht er eine Schlaufe und führt mich zu meinem Leben zurück, nämlich da, wo ich in meiner Berufung stehe.

Dieser Filmmoment hat in mir etwas Tiefes ausgelöst. Mit der Vereinigung und Versöhnung dieser Welt hat er eine Wahrheit angedeutet, die noch nicht existiert, hat gezeigt, was noch kommen wird und was wir uns ersehnen. Und diese Sehnsucht hat in mir etwas Gutes bewirkt: Mitgefühl, Trauer, aber auch den Wunsch, mit meinem Leben einen Unterschied zu machen.

Und genau das möchte ich erreichen, wenn ich schreibe.

Mein Buch, das in Roh- und Halbgarfassung zu drei Vierteln steht, wird kein hochphilosophisches Werk. Es wird eine Geschichte erzählen, die die Leser hoffentlich packt, unterhält und nicht mehr loslässt. Aber das reicht mir nicht. Ich werde nicht eher aufhören, daran zu schreiben, bis ich weiss, dass es auch an diese Wahrheiten rührt, die mir wichtig sind und wegen derer ich schreibe: Echtsein, Versöhnung mit sich selbst und anderen, Annahme, Glaube, Vertrauen. Wenn ich Sehnsucht nach diesen Dingen wecken kann, weil sie zwischen den Seiten durchschimmern, dann – und erst dann – habe ich mein Ziel erreicht.

Wie geht es Euch mit diesem Schmerz an der Welt? Kennt Ihr ihn auch, was löst ihn aus, und was löst er bei Euch aus? Ich glaube, wenn wir uns durch diesen Schmerz bewegen lassen, in unserem kleinen Garten etwas für die bessere Welt zu tun, hat er seinen Zweck erfüllt.

 

ehrgeiz„Das klingt ein bisschen gequält.“

Diesen Kommentar meines Mannes bekam ich letztens zu hören, nachdem ich als Vorbereitung auf ein Konzert aus vermeintlich voller Brust einen meiner Songs herausgeschmettert hatte. Im Anschluss leitete er mir freundlicherweise die Tipps seines Chorleiters weiter, wie ich meine Resonanzräume öffnen könne.

Ich gebe es ungern zu, aber im ersten Moment war ich eine winzige Kleinigkeit „angebiselt“. Schliessich bin ICH in unserem Haushalt die semi-professionelle Sängerin und habe jahrelangen Gesangsunterricht genossen. Frei nach Trappatoni: „Was erlauben Mann?“

Ich habe dann der beleidigten Leberwurst in mir mit einem giftigen Kommentar à la „Ach, ein halbes Jahr im Chor und schon der grösste Besserwisser“  Tribut gezollt. Nach dieser kleinen Ventil-Aktion fragte ich aber genauer nach, und es entspann sich eine hilfreiche Diskussion. Ich nahm mir vor, wieder mehr an meiner Technik zu arbeiten – schliesslich will ich noch besser werden.

Abgesehen davon, dass  mir diese heitere Episode gezeigt hat, wie empfindlich man  reagieren kann, wenn man kritisiert wird, hat mich das Ganze zu einer anderen Frage geführt:

Ist es gesund, immer besser werden zu wollen?

Ich glaube, der Drang nach Perfektion und Exzellenz ist dem Menschen von Natur aus gegeben, und wenn man in einem Bereich etwas Besonderes erreichen will, ist eine gewisse Besessenheit ganz nützlich. Dennoch ist dieser Drang ein zweischneidiges Schwert – gerade, wenn der Vergleich hinzukommt.

Die Forderung nach Leistung gehört zu unserer Gesellschaft, und da Erfolg oft mit der „besten Leistung“ gleichgesetzt ist, gerät die Frage nach meiner Leistung in Beziehung zu der von anderen in den Vordergrund. Mir fallen in letzter Zeit zwei entgegengesetzte Philosophien ins Auge, wie man ungesund mit diesem Drang nach Leistung und Vergleich umgehen kann.

Die erste, die Ausweichtaktik, nenne ich nach einer Folge von „How I met your mother“ einmal „Pokale für alle“. Erziehungsphilososophisch wird aus dieser dem olympischen Gedanken abgeguckten Idee, dass mitmachen alles ist, die Haltung, dass schon das Auftauchen belohnt zu werden hat und dass nichts, was ein Kind oder Jugendlicher tut, bewertet werden darf. Was immer es tut, ist toll. Dummerweise läuft es so später nicht. Wenn ich eine Ausbildung abschliessen will, muss ich das vorgegebene Niveau erreichen – schliesslich will niemand einen Arzt oder Handwerker, der herumpfuscht (nicht, dass es das nicht geben würde). Wenn wir Kindern mitgeben, dass jede ihrer Aktionen in sich genial und sie über jeden Zweifel erhaben sind, generieren wir zukünftigen Frust auf allen Seiten. Der Moment wird nämlich kommen, wo es eben nicht reicht, dass sie „da waren“, sondern wo zu Recht eine bestimmte Leistung von ihnen erwartet wird.

Die andere Seite der Medaille ist die Aufzucht von gnadenlosen Konkurrenzkämpfern. In den Augen mancher Eltern genügt es nicht, wenn ihr Kind die Bestnote macht – der Hauptkonkurrent um den Spitzenplatz sollte wenigstens einen halben Punkt darunter liegen oder noch besser die Prüfung versemmelt haben. So ein Kind betrachtet irgendwann alle anderen als Rivalen am Futtertrog und wird erst dann mit sich  zufrieden sein, wenn niemand anderes besser ist. Aber was passiert, wenn so ein Highperformer sein Ziel nicht erreicht,  weil es – seien wir realistisch – immer irgendwo jemand Besseren gibt? Wenn er plötzlich von der Spitze verdrängt wird? In diesem Weltbild ist jeder Abstieg vom höchsten Platz eine schändliche Niederlage und ein vernichtender Stoss. Wenn ich alles, was ich bin, davon abhängig mache, dass ich zuoberst stehe, kann ich nur verlieren.

Das Problem und die Grundlage für beide falschen Philosophien liegt für mich in der Verknüpfung von Leistung und Wert des Menschen.

Wer seinen Wert von seiner Leistung abhängig macht, wird entweder aufgeben, sich jeder Kritik und Konkurrenz entziehen oder ohne Rücksicht auf Verluste verbissen für seinen Erfolg schuften und dabei alle anderen als Konkurrenten sehen und gnadenlos plattwalzen. Diese Verknüpfung kann also nur  Aufgeblasenheit oder Minderwertigkeitsgefühle hervorbringen.

Nur wer seinen Wert aus einer anderen Quelle bezieht, kann befreit nach den Sternen greifen, etwas riskieren und sich Kritik aussetzen, weil er weiss, dass er der gleiche, wertvolle Mensch ist und bleibt – egal, wie gut oder schlecht er mit dem, woran er gerade bastelt, abschneidet. Diesen Wert jenseits meiner Leistung und auch jenseits der Liebe und Anerkennung von anderen Menschen, von der wir uns auch nicht bestimmen lassen sollten, gibt es nur bei Gott. Und wenn ich ihn dort habe, kann mich nicht mehr so viel erschüttern.

Nicht einmal die berechtigte Kritik meines Göttergatten. Deshalb singe ich auch heute wieder befreit vor mich hin – und versuche, meine Resonanzräume mehr zu öffnen.