Letzten Freitag hat unsere Kirche ein Konzert mit einem befreundeten Musiker organisiert, und als ich mich in der Pause zwischen den Sets im Publikum umsah, fiel mein Blick auf ein Gesicht, das mir bekannt vorkam. Konnte das wirklich meine Kindergärtnerin sein? Ich ging zu ihr und fragte sie ganz frech, und es stellte sich heraus, das sie es war.

Ich habe die Kindergartenzeit und meine Kindergärtnerin in guter Erinnerung : Sie war eine fröhliche und liebevolle Frau, die auf uns eingegangen ist und bei unseren Streichen mitgespielt hat. Meine Spezialität bestand darin, ihr kleine Zettel zu schreiben, dass wir sie töten, braten und essen würden (fragt mich nicht, wie ich daruf kam; das ist mir heute selbst etwas unheimlich). Und sie hatte eine grosse Anzahl Kinderbücher, die ich meiner besten Freundin dann vorgelesen habe, was mich auf das bringt, was mich in frühester Jugend so stark geprägt hat: Bücher.

Ich habe schon früh mit dem Lesen angefangen – erst waren es die Buchstaben auf der Schreibmaschine meiner Mutter, die meine Neugier weckten und die sie mir geduldig erklärt hat. „Das ist ein Mami-M“, das ist ein Papi-P.“ Der Durchbruch kam im Kafitreff meiner Ma mit ihren Schwägerinnen im „Monbijou“, unserer Quartierbeiz, als ich (so die Legende) auf einen Plastiksack einer bekannten Senfmarke zeigte und triumphierend „Thomy!“ in die Welt posaunte.

Nach diesem Einstieg war kein Halten mehr; ich verschlang SJW-Hefte (Schweizer Jugendschriftenwerke), irgendwann mein erstes Buch (ich glaube, es war „Dominik Dachs“) und noch unzählige weitere. Zu den aufregendsten Momenten meiner Kindheit gehörte der Tag vor den Sommerferien, wenn wir in unserer Stadtbibliothek bei der Bibliothekarin nicht nur die üblichen zwei Bücher mitnehmen durften, sondern so viele, wie wir tragen konnten. Was gibt es Schöneres?

In der letzten Zeit ist  mir aufgefallen, dass unter diesen hunderten von Kinderbüchern ein paar wenige herausstechen, die einen so tiefen Eindruck hinterlassen haben, dass ich mich noch heute an sie erinnere. Natürlich habe ich viele über alles geliebt: Die Reihen um die Drei Fragezeichen, die Fünf Freunde, die Schwarze Sieben, Hanni und Nanni, Dolly und eine Weile alle möglichen Pferdestories. Aber mir fallen gerade drei ein, die mich besonders geprägt haben, und kürzlich habe ich mich im Internet auf die Suche nach ihnen gemacht. Es war nicht bei allen einfach, aber am Ende wurde ich fündig. And so I proudly present: Die Bücher, die mich in meiner Jugend beeindruckt haben:

Der Spuk im alten Schrank (Barbara Sleigh, Originaltitel: Jessamy)
Das Buch handelt von einem kleinen Waisenmädchen, das 1964 in den Ferien bei einer Tante in einen Schrank steigt und plötzlich 50 Jahre in der Vergangenheit herauskommt, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ich kann mich nicht mehr an die Details erinnern, aber ich glaube, es war auch ein Geheimnis im Spiel und ein Brief in einem alten Baum; jedenfalls habe ich es mit Feuereifer gelesen.

Das Haus der Treppen (William Sleaton, Orignaltitel: House of Stairs)
Dieses beklemmende dystopische Buch hat mich damals tief beeindruckt. Es handelt von fünf Teenagern, alle Waisen, die sich, ohne zu wissen wie, plötzlich an einem seltsamen Ort befinden: im Innern eines Hauses, das nur aus Treppen und Podesten besteht. Keine Decke, kein Boden. Es gibt einen Nahrungsautomaten, der Fleischbällchen ausspuckt, aber nur, wenn die Kinder das Richtige tun, und was das ist, ändert sich ständig. Die Sache wird gefährlich, als sie erkennen, dass die Maschine es mag, wenn sie sich streiten oder gewalttätig werden. Das Ende sei nicht verraten., aber als ich zu diesem Buch die Rezensionen bei Amazon las, hat es mich fasziniert, wie unterschiedlich Menschen ein Buch wahrnehmen: Es gab viele begeisterte, aber auch viele total „abgetörnte“ Leser, die das Buch mit  Worte wie „soo langweilig, alles spielt am gleichen Ort“ oder „das ist doch total unrealistisch, so ein Haus kann es ja nicht geben“ kommentierten. Mich hat damals nichts davon gestört, aber daran sieht man, wie unterschiedlich Geschmäcker sind.

„Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende
Endlich ein deutsches Buch! Der dicke Wälzer über die Erlebnisse von Bastian Bux in der geheimnisvollen Parallelwelt Phantasien hat mich damals begeistert. Ich habe mich gefragt, ob Kenny Morrison als Atrjeu mein erster Filmschwarm gewesen ist, aber das war er definitiv nicht: das war Patrick Bach als „Silas“ und als „Jack Holborn“. Aber ich schweife ab: Ich habe die unendliche Geschichte viele Male gelesen und bin in die Welt von Bastian, Atreju, Fuchur und der Kindlichen Kaiserin verschwunden, und ich mag das Buch noch heute.

„Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren (Originatitel: Mio, min Mio)
Sind das nicht vier? Tatsächlich. Aber plötzlich ist mir noch „Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren eingefallen. Von ihr habe ich auch dutzende Bücher gelesen wie die „Bullerbü“-Reihe oder „Karlsson vom Dach“, aber dieses hier hat mich verzaubert. Es handelt vom Waisenknaben Mio, der sich plötzlich in einem anderen Land findet, wo sein Vater der König ist. Mit seinem Freund Jum-Jum schafft es Mio, das Land vom bösen Ritter Kato zu befreien. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern, aber an die mythische Atmosphäre das Landes, das etwas vom „Gelobten Land“ hatte.

Was ist das Gemeinsame an diesen Büchern? Was hat mich so gepackt? Da sind zum einen die stillen, einsamen Anti-Helden. Ich habe auch „Die rote Zora“ und „Pippi Langstrumpf“ gelesen, aber mit den beiden konnte ich mich weit weniger identifizieren. Dann ist in allen Büchern eine „andere Welt“ enthalten: einmal ist es die Vergangenheit, einmal die Zukunft, zweimal eine ganz andere, fantastische Welt. Dann natürlich ein Spannungselement: ein Geheimnis, eine Mission, etwas, das es zu erreichen gibt. Und in allen Büchern erkenne ich eine Art „Gute Botschaft“, die mich begeistert hat: im Haus der Treppen zum Beispiel der Aufruf, sich nicht allem anzupassen und Mut zu haben, sich gegen ein „System“ zu stellen, und in allen auch der gute Ausgang für die kleinen Helden  aus einer nicht einfachen Situation.

Ich habe selbst keine Kinder und weiss nicht, was heute auf dem Jugendliteraturmarkt so angeboten wird. Ich hoffe aber, dass es auch solche Geschichten sind: die mitreissen, die die Fantasie anregen und die gleichzeitig, ohne moralisierend zu sein, eine ermutigende Botschaft vermitteln; einen Blick in ein (wenn man unsere Welt betrachtet) alternatives, aber zumindest für mich wahrhaftiges Universum, wo unveräusserliche Werte gelten und jeder Mensch diesen unveräusserlichen Wert hat.

Ich glaube, solche Bücher braucht es heute mehr denn je, nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Und darum schreibe ich.

Was habt Ihr in Eurer Jugend gelesen? Was hat Euch gepackt und mitgerissen? Vielleicht finde ich noch ein unentdecktes Juwel, also nur her mit Euren Büchern!