Mein Mann und ich sind keine großen Aufräumer vor dem Herrn – das Gästezimmer unseres Hauses war so lange eine Abstellkammer, bis sich ein Übernachtungsgast ankündigte. Dann war kurz etwas Hektik angesagt, weil wir noch ein Schlafsofa brauchten und den Raum entrümpeln mussten. Im Zuge dieser Aktion warf ich einen Blick in die obersten Einbauschränke und entdeckte ein paar ungeahnte Schätze.
Einer war ein uralter frommer Frauenroman namens „Der Gottesstrauch“, der andere ein Buch über Heilkräuter, wieder ein anderer eine alte Stickvorlage. Sie alle stammten von den Vorbesitzern unseres Hauses – Überbleibsel einer anderen Zeit, die offenbar niemand mehr gewollt hatte und die jetzt uns gehörten.
Als „History Nerd“ hat mich die Vergangenheit schon immer fasziniert. Beim Betrachten dieser alten Schätze wurde mir bewusst, dass ich auch in meiner Vergangenheit und im Leben meiner Vorfahren immer wieder auf etwas Neues und Interessantes stoße. Mein Vater erzählt davon, wie er als Junge mit seinen Geschwistern regelmäßig im nahe gelegenen Wald Fallholz sammelte und Hagebutten erntete. Meine Mutter überlieferte mir die Erinnerung an ihre eigene Mutter, die Zuhause in Heimarbeit Uhrenteile fertigte.
Philipp Anton von Segesser, ein Schweizer Politiker des 19. Jahrhunderts und Spross einer verarmten Adelsfamilie, wusste über seine Vorfahren so ziemlich alles. In seiner Autobiografie schwelgt er in Erinnerungen an die Ferien, die er als Junge auf dem alten Landsitz der Familie verbrachte. Dabei beschreibt er, wie er durch den „großen Saal“ schritt und sich wieder und wieder die Bilder seiner Ahnen ansah, vor denen er große Achtung hatte. „Ich kannte alle, wusste die Geschichte aller und freute mich, dass keiner ein Volksbedrücker gewesen, dass alle ehrenhaft durch das Leben gegangen, dem Vaterland mit Ehre gedient und ihre Namen untadelhaft erhalten hatten.“
Sein Blick auf seine Vorfahren dürfte nicht völlig objektiv gewesen sein – schließlich hat jeder Mensch auch seine Schwächen. Aber aus seinen Worten spricht eine tiefe Verbundenheit und ein Bewusstsein für die eigenen Wurzeln, auch ein Stolz auf die edlen Charakterzüge, die seine Vorfahren über Jahrhunderte unter Beweis gestellt haben.
Beschämenderweise muss ich gestehen, dass ich schon über die Generation meiner Großeltern erschreckend wenig weiß, ganz zu schweigen von allen, die davor gelebt haben. Doch von Segessers Worte haben meine Neugierde geweckt. Aus was für einer Linie von Menschen stamme ich? Gab es darunter Missionare oder Menschenfresser, Wohltäter oder Übeltäter? Und wieviel davon trage ich weiter?
Wenn ich an meine Großmutter väterlicherseits denke, fällt mir ihre unerschrockene kleine Gestalt ein und das legendäre Zitat „Tue recht und scheue niemand“, das mein Vater auch gern zum Besten gibt und das sie oft verwendete. Obwohl „recht tun“ ein schwieriger Begriff ist und ich mir bewusst bin, dass ich jeden Tag Fehler mache, ist diese Lebenshaltung doch von ihr auf meinen Vater und auf mich übergegangen. Denke ich an den Clan meines Vaters, berührt mich der starke Zusammenhalt unter den Geschwistern. Und ich freue mich an den in verschiedenen Formen hervorblitzenden Humor und der interessanten Tatsache, dass mein Vater und seine Brüder allesamt charakterstarke, humorvolle und eigenständige Frauen geheiratet haben, die sich nichts vormachen lassen.
Über die Familie meiner Mutter weiß ich weniger, auch weil sie nicht mehr lebt und mir ihre Erinnerungen nicht mehr weitergeben kann. Dafür denke ich gern an die gemeinsame Leidenschaft meiner Eltern für die Jugend und ihren Einsatz für die sozial Schwächeren. Und ich erinnere mich an Mutters heitere Genügsamkeit, ihre Liebe zu spannenden, humorvollen Geschichten und ihren klaren Blick hinter die Fassade der Menschen.
Wie es bei von Segessers Ahnen den einen oder anderen Tintenfleck im Reinheft gab, hat sicher jede Familie auch ihre dunkleren Seiten. Wir alle kennen Charakterschwächen, alte Wunden und verhärtete Einstellungen, die über unsere Familienbande manchmal Eingang in unsere Herzen finden. Es ist befreiend, wenn ich mir klarmache, dass ich die Wahl habe, was ich weitertragen und weitergeben will und was nicht. Natürlich ist es mit der Wahl, etwas loslassen zu wollen, nicht getan, aber ohne die bewusste Entscheidung, ein bestimmtes Muster loslassen zu wollen, wir ganz bestimmt nichts passieren.
Im Guten wie im weniger Guten empfinde ich das Bewusstsein für die Vergangenheit als etwas Erdendes, das mich im Leben verankert. Es erinnert mich daran, dass alles eine Geschichte hat und dass ich mich selbst und andere nur verstehen kann, wenn ich einen Blick hinter die Kulissen und in die Vergangenheit werfe.
Im Schrank meines Gästezimmers habe ich auch eine über hundertjährige Bibel entdeckt. Sie enthält einen handschriftlichen Eintrag und ein altes Lesezeichen. Diese Fundstücke sprechen von der Zuversicht, dass Gott meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seinen Händen hält und mir beisteht, wenn ich ins Trudeln gerate oder nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Was weißt Du über Deine „Ahnen“ – gehst Du Dir auf dem Familiensitz die Ölgemälde anschauen, oder beruht Dein Wissen auch eher auf den Überlieferungen Deiner Familie? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!
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