NazarenerzeichenIch scheine momentan in einer Laune für inhaltsschwere Posts zu sein – ich verspreche allen Besserung, die schon lange auf etwas Leichtfüßigeres hoffen. Die letzten Wochen haben uns ja leider in dieser Hinsicht wenig geboten, dafür umso mehr Absurditäten aus dem Inland, Abscheulichkeiten aus dem Nahen Osten und anderes, worüber ich stolpere und das mich beschäftigt.

 

Der Irak ist momentan neben dem Nahen Osten der Hot Spot für schockierende Nachrichten, und die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley war eine dieser „Hot News“. Sie macht es mir schwer, den Islam nicht an dieser grausamen Frucht seiner radikalsten Anhänger zu messen. Wenn ich meinen Fokus dann auf die radikale Christenheit lenke, stoße ich in letzter Zeit leider ebenfalls auf Grenzwertiges und Grenzüberschreitendes. Als ein Beispiel mögen die Anhänger der Westboro Babtist Church genügen: sie verbreiten konstant Hass gegenüber allen, die inner- oder außerhalb der Kirche nicht nach ihrer Interpretation der Bibel leben. Ihre Wortführer morden nicht, aber aus ihren Tiraden geht klar hervor, dass sie bestimmte Gruppen von Menschen am liebsten tot sehen würden. Nach dem Selbstmord von Robin Williams haben sie einen Hasstweet abgesetzt, dass er „ewig in der Hölle verrotten“ solle.

Abscheulichkeiten wie die der IS und Hasspredigten wie die der Baptisten von Westboro gießen zur Zeit eine Menge Wasser auf die Mühlen derer, die mit Religion nichts am Hut haben: wenn man sich auf diese Übel konzentriert, könnte man tatsächlich folgern, dass jeder radikale Glaube nur das Böse im Menschen hervorbringt.

Aber nur fast.

Ich distanziere mich mit jeder Faser meines Seins von Menschen und Kirchen, die Hass gegenüber Andersgläubigen und anders Lebenden säen. Aber ich weigere mich, meinen Glauben zu relativieren, und ich wehre mich gegen die obige Schlussfolgerung.

Dass radikaler Glaube auch hässliche Blüten treibt, kann niemand bestreiten – ob Christ, Muslim oder Jude (um mal bei den drei großen monotheistischen Religionen zu bleiben). Doch in jeder dieser Religionen finden sich auch Menschen, die ihre Aufgabe darin sehen, Brücken zu bauen. Ich denke an die in der Schweiz beheimatete internationale christliche Organisation „Gemeinschaft der Versöhnung“, die sich für die Förderung des Friedens und die Versöhnung befeindeter Volksgruppen einsetzt, oder an den Dirigenten Daniel Barenboim. Er hat sowohl einen israelischen als auch einen palästinensischen Pass und führt das West-Eastern Divan Orchester, das aus israelischen und arabischen Jugendlichen besteht. Ich denke aber auch an die vielen Menschen in der Schweiz, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzen, oder an die Organisation „Granges Mélanges“, die in meiner Heimatstadt Wertvolles für die Integration von Menschen aus allen Kulturen leistet.

Ich weiß nicht, was diese Menschen glauben. Aber ich will und werde mich niemals dafür schämen, eine radikale Christin zu sein. Denn obwohl ich für andere Religionen nicht sprechen kann, bin ich überzeugt, dass das obige christliche Beispiel das Resultat eines falsch verstandenen, auf Abwege geratenen Glaubens ist. Jesus hätte an den Hasstiraden der Westboro-Babtisten keine Freude gehabt. Er hat Klartext gesprochen, wann immer es nötig war, und die Dinge beim Namen genannt, aber er hat es in Liebe getan – immer mit dem Ziel der Wiederherstellung. Er hat nie einen Menschen aufgegeben oder abgeurteilt.

Als Christin stehen für mich drei Ziele im Zentrum: das gemäß Jesu Aussage wichtigste Gebot zu halten und Gott mit allem zu lieben, was ich bin, und meinen Nächsten wie mich selbst; Jesu Auftrag an seine Jünger zu erfüllen und meinen Glauben weiterzugeben, und Gottes Liebe für andere Menschen erfahrbar zu machen, indem ich mich danach ausstrecke, Jesus jeden Tag ähnlicher zu werden.

Alle drei sind nicht einfach, und das letzte wird erst wirklich vorbracht sein, wenn ich ihm Auge in Auge gegenüberstehe. Wenn ich meinen Glauben radikal, unverdünnt und unverblümt teile und offenlege, muss ich damit leben, dass meine Handlungen als Früchte dieses Glaubens angesehen werden – die Guten, die Mittelmäßigen und die mit Wurm. Trotzdem will ich zu meinen Schwächen stehen und mein Leben nicht beschönigen.

Denn im Grunde gibt es kein kraftvolleres Zeugnis für den christlichen Glauben als Menschen, die sich in all ihrer sichtbaren Unvollkommenheit und Zerbrochenheit geliebt, erlöst und sicher fühlen – so sicher, dass sie sich nicht scheuen, anderen die Pickel und Narben auf ihrer Seele zu zeigen und dennoch auszustrahlen, dass sie im Frieden mit sich sind. Als Gebäude „under construction“, willig, sich zu verändern, aber im Wissen darum, dass nichts sie von der Liebe ihres Gottes trennen kann.

galaxy-10996_640In den letzten beiden Wochen habe ich meine Ferien und bei dem Hudelwetter öfters mal ein gutes Buch oder einen Film genossen. Die Ausflüge in die faszinierenden Welten von Frodo, Captain Picard und Harry Potter haben Spaß gemacht und meine Fantasie angeregt.

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Gleichzeitig bin ich mir in letzter Zeit bewusst geworden, dass wir fürs Eintauchen in andere Universen unser eigenes nicht zwingend verlassen müssen. Rund um uns herum können wir Einblicke in Welten erhaschen, die genauso faszinierend sind.

Letztens hat mir mein Vater erzählt, wie sich der Kleiderkauf für ihn und seine Geschwister abspielte, als er ein Teenager war: die ganze Familie machte sich auf ins Bekleidungsgeschäft der Kantonshauptstadt, wo seine Schwester, eine gelernte Schneiderin, die Qualität der Stoffe prüfte, während sein Vater mit Geschick und Hartnäckigkeit dafür sorgte, dass er für den Großeinkauf einen ansehnlichen Rabatt erhielt. Ich kann mich an meine Kleiderkäufe als Teenager gut erinnern – wie alle in unserer Generation war ich sehr auf meine Unabhängigkeit bedacht, und ein familiärer Pilgerzug durch die ansässigen Geschäfte hätte meine persönliche Würde in höchstem Maß gefährdet.

Fremde Welten eröffnen sich auch in der gleichen Generation: ein enger Freund meines Mannes ist als Bauernsohn mit elf Geschwistern im sanktgallischen Rheintal aufgewachsen. Für seine Geburt reiste die Hebamme im schneereichen Januar mit ihrer Vespa an und verhalf dem neuen Familienspross mit entsprechend eisigen Händen ins Dasein. Wie er meinte, kann man ihm nicht verübeln, dass er sich ob dieser Behandlung stimmgewaltig Aufmerksamkeit verschaffte.

Doch selbst im kleinen Universum meiner Jugend haben verschiedene Welten existiert: ich entstamme einer autolosen Familie und habe jeweils am Montag voller Staunen den Berichten meiner Klassenkameraden gelauscht, die von ihren Familienausflügen in die nahe gelegenen Einkaufscenter namens „Carrefour“ und „Shoppyland“ berichteten – solche Konsumtempel waren für uns als Bahnfahrerfamilie völliges Neuland. Und selbst innerhalb einer Familie klaffen Erfahrungen auseinander: ein früherer Bandkollege ist in Ostdeutschland aufgewachsen und erlebte seine Jugendzeit in der DDR; eine Welt, die für seinen jüngeren Bruder bereits nicht mehr greifbar war.

Wenn ich mir diese Beispiele vor Augen halte, erstaunt es mich fast, dass wir uns untereinander verständigen können. Und meine Liebe zum geschriebenen Wort wird noch verstärkt, weil es einer der besten Wege ist, um uns anderen Menschen mitzuteilen: über die Jahrhunderte haben es Klassiker von Goethe, Shakespeare, aber auch neuere Werke wie Herr der Ringe und viele andere geschafft, Landes-, Sprach-, Religions- und Generationsgrenzen zu überwinden und Menschen auf dem ganzen Globus zu begeistern.

Zu diesen Büchern gehört „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee, das uns in den amerikanischen Süden der 1930er Jahre entführt. Es erzählt die Geschichte von Atticus Finch, ein Anwalt, der einen Schwarzen verteidigt, der fälschlicherweise der Vergewaltigung eine weißen Frau beschuldigt wird. Durch die Augen von Finch’s Tochter Scout tauchen wir in Welten ein, die unterschiedlicher nicht sein könnten – die Welt der angesehenen weißen Bürger, die der Schwarzen, deren Großeltern noch Sklaven waren, und die einer weißen Unterschicht, die am Rande der Gesellschaft lebt und deren Gesetze ignoriert.

Das Buch zeigt deutlich, wie einschneidend Hautfarbe, Religion und sozialer Stand unsere persönliche Welt prägen. Vor allem ruft es in Erinnerung, dass auch die Macht von Worten begrenzt ist und wir einen entscheidenden Schritt machen müssen, wenn wir die Welt unseres Nächsten verstehen wollen. Atticus Finch sagt zu seiner Tochter:

„Du wirst eine andere Person niemals wirklich verstehen, bevor Du die Dinge aus ihrer Sicht betrachtest (…)
bevor Du in ihre Haut schlüpfst und darin herumläufst.“

Manchen Menschen fällt es schwer, sich in andere hineinzufühlen, aber es ist unabdingbar, wenn wir die Grenzen zwischen unseren Welten aufweichen wollen. Und sicher bringt das jeder fertig, der schon mal in einem Buch mit einer Romanfigur mitgelitten hat. Bevor ich mich das nächste Mal in aller Rechtschaffenheit über jemanden aufrege oder herablassend lächelnd über ihn erhebe, will ich versuchen, die Welt aus seinen Augen zu sehen. In was für Umständen lebt er? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich so leben würde? Kann ich von ihm erwarten, dass er sich die Gedanken macht, die ich mir gemacht habe?

In den obigen Geschichten spiegelt sich auch eine ganze Menge Farbigkeit und Vielschichtigkeit. Ist es nicht spannend, dass Menschen um uns herum so vieles zu erzählen haben, was uns neu und fremd ist? Dass wir manchmal weder ein Buch aufmachen noch einen Film anschauen müssen, um ganz neue Welten zu entdecken – sondern nur dem Menschen neben uns ein paar Fragen zu stellen brauchen? Ich freue mich an dieser Andersartigkeit und Vielfalt und hoffe, dass wir mehr und mehr das Fremde und den Fremden in unserer Nähe mit diesen Augen sehen können.

Fällt es Dir leicht, in die Haut von anderen zu schlüpfen? Was für faszinierende Welten und Geschichten aus unserem Universum kennst Du aus Deiner Umgebung? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!