Heute vor genau dreissig Jahren sass unsere Familie in der Küche beim Sonntagsfrühstück, als wir ein fernes Knattern hörten. Durchs Küchenfenster sahen wir einen Helikopter, der Richtung Grenchenberg flog. Das löste am Tisch einige Spekulationen aus, war aber bald darauf wieder vergessen – bis mein Vater etwa zwei Stunden später einen Anruf erhielt und man ihn um einen Kommentar zum Tod von Bundesrat Willi Ritschard bat.
Willi Ritschard war für unsere Familie nicht nur einer von sieben Bundesräten. Mein Vater sass damals seit zwei Jahren als Solothurner „Genosse“ im Kantonsrat uns schätzte den bodenständigen Ritschard sehr. Noch heute erinnert er sich an eine persönliche Begegnung, die für den einmaligen Schalk des Solothurners typisch war: Auf einem Fraktionsausflug der SP war mein Vater dem hohen Bundesrat vorgestellt worden. Der hatte einen Blick auf meines Vaters Glatze geworfen, seine Hand darauf gelegt und gemeint: „Mir zwöi chöi au nume no d Finanze frisiere!“ (Wir zwei können auch nur noch die Finanzen frisieren!)
Bei einer kleinen Recherche für dieses Post habe ich viel Liebenswertes und Berührendes über Ritschard entdeckt. Aus allen Quellen spricht die geerdete Persönlichkeit, aber auch die emotionale, tiefgründige Ader dieses Mannes. Ohne unsere heutigen Bundesräte abwerten zu wollen, frage ich mich, ob Persönlichkeiten seiner Art heute in der Politik überhaupt noch Platz hätten. Ich gedenke mit Achtung unseres fünften Solothurners im Bundesrat – seine Einfachheit, sein Humor und seine Nahbarkeit öffneten ihm in kürzester Zeit die Herzen aller Schweizer, und an diesem Tag vor 30 Jahren hat das ganze Land um ihn getrauert.
Vor neun Jahren wurde der 16. Oktober für meine Familie zum Sinnbild für einen viel grösseren Verlust. Am 16. Oktober 2004 musste mir mein Vater telefonisch mitteilen, dass meine Mutter – sie war 55 Jahre alt – in der Nacht an einer Hirnblutung gestorben war.
Ich hatte mir vorher schon oft die Frage gestellt, wie ich mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen würde. Heute weiss ich, dass man es überlebt, aber auch, dass die Trauer Teil des Lebens bleibt – und dass sie sich im Lauf der Jahre verändert. Der Schmerz des Verlusts ist geblieben, aber er wurde angereichert mit einem kostbaren Korb voller Erinnerungen an die Frau, die mir das Leben geschenkt und mich geprägt hat.
Meine Mutter war keine Frau der Öffentlichkeit. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und bei Veranstaltungen sass sie am liebsten in der letzten Reihe am Rand. Sie arbeitete gern im Hintergrund und hatte grossen Anteil am politischen und kulturellen Engagement meines Vaters, indem sie ihm Zuhause während der Woche den Rücken frei hielt und seine Arbeit mit ihren herausragenden organisatorischen und administrativen Fähigkeiten unterstützte. Ein Erbe dieser gemeinsamen Arbeit ist der „Ferienpass Grenchen“, den sie zusammen aufgebaut und während vieler Jahre ehrenamtlich geführt haben. Noch heute erinnere ich mich an tolle Anlässe wie die Besichtigung des „Nidlelochs“, Schachkurse, Waldnachmittage und vieles mehr, was uns als Kinder begeistert hat.
Ma war auch eine wunderbare Köchin und Gastgeberin. Seit ich selber einen Haushalt habe und manchmal Gäste einlade, weiss ich, dass zum guten Gastgeber viel mehr gehört als ein feines Essen und genug Wein. Ma brachte es fertig, dass sich alle wohl fühlten, sich entspannten und die Zeit genossen. Das kann man nicht „machen“ – es fliesst aus einer Persönlichkeit, die sich wirklich um das Wohl jedes einzelnen sorgt und kümmert und darin aufgeht.
Bei einer oberflächlichen Lese dieser Zeilen könnte man meine Ma für eine sehr traditionelle Frau halten – nichts gegen Traditionen, aber dieses Etikett würde ihr nicht gerecht. Ich habe selbst erst im Nachhinein erkannt, wie sie wirklich war– eine stille Rebellin mit einer starken kreativen Ader, einem schrägen Sinn für Humor und unabhängigen Ansichten. Sie gab nichts auf Status und Konvention, mochte skurrile Geschichten und Menschen, die etwas anders waren. Am Apéro nach der Trauerfeier kam eine ihrer Arbeitskolleginnen auf mich zu und meinte mit einem strahlenden Lächeln: „Gerade haben wir uns daran erinnert, wie oft Monika mit ihrem schallenden, ungekünstelten Lachen eine ganze Tischgemeinschaft angesteckt hat – bis allen die Tränen herunterliefen und keiner mehr gerade auf dem Stuhl sitzen konnte.“ Ihre Augen waren auch nicht tränenlos, aber sie spiegelten die Ausgelassenheit und Freude, die Ma mit ihrer Art verbreiten konnte.
Daneben hatte meine Ma eine erbarmungslose Seite. Sie hasste Arroganz, Geltungsdrang, Unaufrichtigkeit und Verstellung, und sie hatte einen guten Sensor dafür. Wenn jemand auf ihrem Radar aufgetaucht und für „schuldig“ befunden worden war, blieb sie in der Regel bei ihrem Urteil – und scherte sich dabei nicht um Namen oder Position.
Ich komme in vielerlei Hinsicht und vor allem äusserlich eher nach meinem Vater, aber heute erkenne ich in vielen meiner Eigenheiten auch das Erbe meiner Ma. Ich freue mich daran und will dieses Erbe weitertragen. Und es schmerzt mich, dass ich mit ihr nicht mehr darüber sprechen kann, wie ähnlich wir uns sind und wie stolz ich auf das bin, was sie aus ihrem Leben gemacht hat.
Ma hat kein hohes Amt gehabt oder Karriere gemacht. Sie musste ihre Eltern überreden, damit sie eine kaufmännische Lehre absolvieren durfte. Im Gedächtnis der breiten Öffentlichkeit hat sie keine Abdrücke hinterlassen – wohl aber in den Herzen der Menschen, die sie kannten und liebten. Denn sie hat in ihrem Leben mit das Wichtigste getan: sie hat anderen Wertschätzung geschenkt. Und sie war die erste, die mir vermittelt hat, dass ich einzigartig und geliebt bin – genauso, wie ich bin. Damit hat sie ein Fundament gelegt, das auch Bestand hatte, als ich selbst das Liebenswerte in mir nicht sehen konnte.
In der Geschichte von Harry Potter gibt seine Mutter ihr Leben, um Harry zu beschützen. Dadurch erhält er eine Art Siegel, so dass das Böse ihm keinen Schaden zufügen kann. Ich glaube, dass diese einzigartige Liebe einer Mutter immer so ein Siegel hinterlässt – einen unsichtbaren Abdruck in unseren Herzen, ein Echo der bedingungslosen Liebe, mit der Gott uns zuerst geliebt hat.
Ich respektiere und ehre, was Mütter vollbringen, indem sie ihre Kinder erziehen, ihnen Werte mitgeben und ihnen diese Liebe schenken. Und ich will nicht vergessen, dass auch hinter einem grossen Mann wie Willi Ritschard eine Mutter stand, die ihn mit ihrer Fürsorge, Zuwendung und Liebe für seinen Weg ausgerüstet hat. Um es mit den etwas altertümlichen, aber immer noch wahren und schönen Worten von Jeremias Gotthelf zu sagen:
„Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.“
In achtender und liebender Erinnerung für
Willi Ritschard (28.9.1918-16.10.1983)
Monika Meier (-Vogt) (17.6.1949-16.10.2004)
Letzte Kommentare