AbstimmungHeute war einer der Abstimmungssonntage in der Schweiz, und ich war wieder einmal „old style“ dabei: ab ins Wahllokal, Stimmausweis hinlegen, Zettel in die Urne werfen. Allerdings nur unfreiwillig und als Folge selbstverschuldeter Ungeschicktheit.

 

Erst war ich beim Öffnen des Unterlagenmaterials so ungeschickt, den Umschlag zu beschädigen. Ich füllte meine Zettel aus, packte sie ein und klebte den Umschlag notdürftig zu. Dann nahm ihn mit zur Arbeit, um ihn dort in die Post zu werfen – und merkte im letzten Moment, dass ich den Stimmausweis nicht unterzeichnet hatte. Also riss ich den Umschlag wieder auf, klaubte den Stimmausweis heraus, kritzelte meine Unterschrift auf die getüpfelte Linie und verstaute alles mit Mühe wieder an den richtigen Ort. Allerdings sah der Umschlag jetzt aus, als hätte ihn auf gutschweizerisch „e Chue i der Schnore gha“ (Nichtschweizer dürfen gern raten – im Notfall hilft das untere Bild). Da ich nicht sicher war, ob die Wahlbüroverantwortlichen dieses Machwerk akzeptieren würden, blieb mir nichts anderes übrig, als nach alter Schule den Weg an die Urne unter meine Füße zu nehmen.

Pixabay Kuh

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Ich habe es nicht bereut. Das Wetter war heute wunderbar, und der kleine Spaziergang hat mich erfrischt und auf den Sonntag eingestimmt – und mir die Gelegenheit verschafft, darüber nachzudenken, wie privilegiert ich bin.

Ich darf wählen und abstimmen, darf mich zu großen und kleinen politischen Angelegenheiten in meinem Land, meiner Region und meiner Gemeinde äussern – und es wird mir leicht gemacht. Wenn ich es schriftlich tun will, brauche ich keinen Antrag zu stellen, damit man mir das Material schickt. Es kommt von selbst frei ins Haus, und ich brauche nur den Stimmausweis zu unterschreiben, meine Jas und Neins einzusetzen, alles wieder in denselben Umschlag zu packen und ihn zuzukleben, zu frankieren und in den nächsten Briefkasten zu werfen. Alles, was es mich kostet, ist die Zeit, mich schlau zu machen und alles auszufüllen, sowie eine Briefmarke. Und nicht einmal die ist zwingend: ich kann auch bei der Einwohnergemeinde vorbeifahren und den Umschlag dort in den Briefkasten werfen.

Wenn ich diese luxuriösen Möglichkeiten der Mitbestimmung vor Augen habe und dann einen Blick auf die chaotischen Verhältnisse und autoritären Systeme rund um den Globus werfe, kommen regelmäßig Dankbarkeit und Beschämung in mir auf. Dankbarkeit, weil ich in einem Land lebe, das mir so viele Möglichkeiten bietet. Ich darf nicht nur wählen und abstimmen – ich kann mich für jedes Amt zur Wahl stellen, darf meine Meinung sagen und meinen Glauben leben. Und Beschämung, weil diese Dankbarkeit so oft verschüttet und begraben ist, ich mich manchmal wie viele Schweizer von der Wahlurne fernhalte und lieber auf hohem Niveau darüber meckere, was alles nicht stimmt.

Tatsächlich ist auch das schweizerische System nicht perfekt. Unsere Demokratie ist schwerfällig, die parlamentarische Maschinerie läuft langsam. Lobbyisten üben ihren Einfluss auf das Parlament aus, und wirtschaftlich stärkere Gruppierungen können sich oft mehr Präsenz leisten. Populistische Meinungsmacher zielen mit vermeintlich einfachen Antworten auf die Schwächsten der Gesellschaft auf und haben damit auch noch Erfolg. In solchen Momenten frage ich mich, ob die direkte Demokratie, wie wir sie pflegen, wirklich das beste System ist.

Aber seien wir ehrlich: das perfekte System gibt es sowieso nicht. Und gäbe es eines, würde es der nicht perfekte Mensch sofort für seine Zwecke verbiegen. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass unser System uns so viele Möglichkeiten bieten, und wir sollten dieses Glück ehren, indem wir abstimmen und wählen , anstatt nur im trauten Kreis herumzumeckern.

Die heutige Abstimmung ist aus meiner Warte übrigens nicht ganz zufriedenstellend verlaufen. Weitere Details werde ich für mich behalten – wer meine politischen Standpunkte kennt, kann ja eine Spekulation anstellen. Aber ich bin froh, dass ich meiner Bürgerpflicht nachgekommen bin, und will auch den nächsten Termin wahrnehmen – übrigens der 30. November. Und dann werde mir beim Aufreißen des Umschlags ein bisschen mehr Mühe geben – die Temperaturen dürften dann nicht mehr so spaziergangsfreundlich sein.

Wie hältst Du es mit der Bürgerpflicht? Gehst Du wählen und abstimmen? Für Nichtschweizer: beneidest Du uns um die direkte Demokratie, oder bist Du froh, dass Du das nicht auch noch musst? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

 

 

KindergrabenLetztens hat mich eine Freundin über meine Facebooktimeline gebeten, eine von ihr gestellte Frage in ein Post umzuwandeln. Das Thema ist ein harter Brocken, aber ich habe die Herausforderung angenommen, weil es mich auch betrifft und ich es spannend finde. Es betrifft einen Graben zwischen Menschen, der manchmal fast unüberwindbar scheint − den zwischen Eltern und Kinderlosen.

Mein Göttibub und ich vor langer Zeit – er wird bald 16!

 

Die Kommentare unter dem Post meiner Freundin haben aufgezeigt, wie unterschiedlich Wahrnehmung und Bedürfnisse sein können. Ein Vater fand es provokativ, wenn Nicht-Eltern ihm von ihrem Stress erzählten, während er sie im Alltag beobachtete und sah, wie oft sie sich ein paar freie Minuten nehmen oder spontan in einen Kurzurlaub fahren konnten. Ungewollt Kinderlose wiederum litten darunter, dass Eltern ihnen den mühsam erarbeiteten Seelenfrieden nicht abnehmen, weil sie nicht glauben können, das man ohne Schaden aus dem Albtraum ungewollter Kinderlosigkeit herauskommen kann.

Ich gehöre weder zur einen noch zur anderen Kategorie. Mein Mann und ich haben spät geheiratet und haben keine Kinder bekommen, aber wir hatten beide nie ein unstillbares Bedürfnis, eine Familie zu gründen. So gehören wir zu den Menschen, die unter der Kinderlosigkeit nicht leiden. Trotzdem haben wir unsere eigenen Probleme mit dem Thema.

Das Dilemma erinnert mich an mein Post „Fremde Welten“, und ich glaube, dass der Schlüssel zu einem besseren Miteinander auch hier in offener Kommunikation und im Willen beider Seiten liegt, in die „Haut des anderen“ zu schlüpfen.

Beide Lebensformen vereinigen schöne und schwierige Aspekte. Wer Kinder hat, trägt Verantwortung für das Leben anderer, muss viele Wünsche und Bedürfnisse unter einen Hut bringen und persönliche Bedürfnisse oft zurückstellen. Er kann seine Zeit nicht frei einteilen und muss einen großen Teil dieser Zeit für organisatorische Belange aufwenden. Damit einher geht oft eine finanziell angespannte Situation. Andererseits ist die Erfahrung, ein Kind zu bekommen, einzigartig und kostbar. Die Geburt eines Kindes verändert einen Menschen für immer. Ohne es selbst erfahren zu haben, glaube ich, dass Kinder dem eigenen Leben eine neue Dimension hinzufügen − als ob man aus einer zwei- in eine dreidimensionale Welt eintauchen würde. Das Leben wird chaotischer, anstrengender, aber auch tiefer und emotionaler. Und so hart und grenzwertig manche Erfahrungen auch sein mögen – ich habe noch nie Eltern getroffen, die ihre Kinder hergegeben hätten.

Das Leben ohne Kinder bietet auf den ersten Blick auch viel, gerade, wenn man nicht unter der Kinderlosigkeit leidet. Kinderlose können ihre Zeit neben der Arbeit selbst einteilen, können spontan in Urlaub fahren und nach einem stressigen Arbeitstag einfach die Füße hochlegen. Sie können auch mal vor dem Fernseher essen und jederzeit Filme schauen, die ihnen gefallen. Sie haben mehr Geld zur Verfügung. Dafür sind sie – besonders in einem bestimmten Alter – in gewissem Sinn Außenseiter in einer von Familien geprägten Welt. Sie werden als Egoisten oder Sonderlinge betrachtet. Sie müssen sich auf ein einsameres Alter einstellen und ihren Lebensstil rechtfertigen. Wenn sie gern Kinder gehabt hätten, müssen sie die Trauer überwinden.

Dreh- und Angelpunkt des Verständnisses und der guten Beziehungen scheint mir, dass man das „Leben der anderen“ weder durch die rosa noch durch die graue Brille betrachtet. Wenn wir nur die rosa Seite der „anderen“ anschauen, resultieren daraus Neid und negative Gefühle. Wenn wir nur die Schattenseiten betrachten, reagieren wir mit Unverständnis oder Mitleid auf die andere Seite, was auch belastend sein kann.

Für diejenigen, die sich bewusst für oder gegen Kinder entschieden haben, gehört zu einem umfassenden Blick meiner Meinung auch, sich selbst ab und zu an diese Entscheidung zu erinnern. Aus der persönlichen Sicht von jemandem ohne Kinder an die Adresse der „anderen“ meine ich damit: wer sich für Kinder entscheidet, kann sich vielleicht nicht vorstellen, wie grundlegend diese Entscheidung sein Leben auf den Kopf stellen wird. Aber er wird wissen, dass sich vieles ändern wird und er von bestimmten Freiheiten Abschied nehmen muss. Dass man diesen Freiheiten nachtrauert, ist menschlich; dass man sie anderen missgönnt und negative Gefühle schürt, ist unfair und fruchtlos und wird ein Miteinander erschweren.

Hier als erster Schritt der offenen Kommunikation die wichtigsten Bedürfnisse, die ich von Seiten der Kinderlosen herausgespürt habe oder selber kenne:

  • Ungewollt Kinderlose wollen nicht ständig bemitleidet werden. Sie haben meist einen Weg hinter sich, auf dem sie sich irgendwann mit ihrer Situation arrangiert haben. Wenn sie mit Euren Kindern etwas unternehmen wollen, ist das daher kein Zeichen, dass sie gerade eine Krise schieben. Fragt also nicht, „Oje, geht es Dir nicht gut?“ Glaubt ihnen, dass sie ihr Leben auch so genießen, und freut Euch an ihrem Interesse an Euren Kindern.
  • Betrachtet die freie Zeit der Kinderlosen nicht als Manipulationsmasse. Ob gewollt oder ungewollt kinderlos: wir haben uns arrangiert und nutzen diese Zeit. Wir sind gern mal flexibel und schätzen es selbst, dass wir das im Notfall sein können. Wenn Ihr uns aber kurzfristig um Unterstützung bittet, obwohl Ihr schon lange wisst, dass Ihr an dem Tag Unterstützung braucht, vermittelt Ihr uns das Gefühl, dass unsere Lebenszeit weniger wichtig ist als Eure.
  • Sagt uns, was Ihr von uns möchtet – wir können es nicht erahnen, weil wir das „Leben vor dem Kind“ führen und die Umwälzung nie erlebt haben. Auch sprechen manche von uns nicht so gut „kind“-isch und sind unsicher, was man machen kann und soll und was nicht. Dahinter steckt weder Desinteresse noch Unwille. Wenn Ihr merkt, dass wir zu der Sorte gehören – macht uns keine Vorwürfe, sondern helft uns und gebt uns Hinweise.

Bevor das Post noch viel länger wird, werde ich hier einen Punkt setzen. Ich weiß nicht, ob ich von der Warte der Kinderlosen alles abgedeckt habe, und freue mich auf weitere Hinweise und Kommentare.

Vor allem aber öffne ich die Kommunikation und hoffe auf Euch Eltern: teilt uns Eure Bedürfnisse mit! Wo tut unser Verhalten Euch weh? Was wünscht Ihr Euch von uns? Teilt mit uns, wie Ihr Euer Leben erlebt und wo wir Euch besser verstehen und unterstützen können!

NazarenerzeichenIch scheine momentan in einer Laune für inhaltsschwere Posts zu sein – ich verspreche allen Besserung, die schon lange auf etwas Leichtfüßigeres hoffen. Die letzten Wochen haben uns ja leider in dieser Hinsicht wenig geboten, dafür umso mehr Absurditäten aus dem Inland, Abscheulichkeiten aus dem Nahen Osten und anderes, worüber ich stolpere und das mich beschäftigt.

 

Der Irak ist momentan neben dem Nahen Osten der Hot Spot für schockierende Nachrichten, und die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley war eine dieser „Hot News“. Sie macht es mir schwer, den Islam nicht an dieser grausamen Frucht seiner radikalsten Anhänger zu messen. Wenn ich meinen Fokus dann auf die radikale Christenheit lenke, stoße ich in letzter Zeit leider ebenfalls auf Grenzwertiges und Grenzüberschreitendes. Als ein Beispiel mögen die Anhänger der Westboro Babtist Church genügen: sie verbreiten konstant Hass gegenüber allen, die inner- oder außerhalb der Kirche nicht nach ihrer Interpretation der Bibel leben. Ihre Wortführer morden nicht, aber aus ihren Tiraden geht klar hervor, dass sie bestimmte Gruppen von Menschen am liebsten tot sehen würden. Nach dem Selbstmord von Robin Williams haben sie einen Hasstweet abgesetzt, dass er „ewig in der Hölle verrotten“ solle.

Abscheulichkeiten wie die der IS und Hasspredigten wie die der Baptisten von Westboro gießen zur Zeit eine Menge Wasser auf die Mühlen derer, die mit Religion nichts am Hut haben: wenn man sich auf diese Übel konzentriert, könnte man tatsächlich folgern, dass jeder radikale Glaube nur das Böse im Menschen hervorbringt.

Aber nur fast.

Ich distanziere mich mit jeder Faser meines Seins von Menschen und Kirchen, die Hass gegenüber Andersgläubigen und anders Lebenden säen. Aber ich weigere mich, meinen Glauben zu relativieren, und ich wehre mich gegen die obige Schlussfolgerung.

Dass radikaler Glaube auch hässliche Blüten treibt, kann niemand bestreiten – ob Christ, Muslim oder Jude (um mal bei den drei großen monotheistischen Religionen zu bleiben). Doch in jeder dieser Religionen finden sich auch Menschen, die ihre Aufgabe darin sehen, Brücken zu bauen. Ich denke an die in der Schweiz beheimatete internationale christliche Organisation „Gemeinschaft der Versöhnung“, die sich für die Förderung des Friedens und die Versöhnung befeindeter Volksgruppen einsetzt, oder an den Dirigenten Daniel Barenboim. Er hat sowohl einen israelischen als auch einen palästinensischen Pass und führt das West-Eastern Divan Orchester, das aus israelischen und arabischen Jugendlichen besteht. Ich denke aber auch an die vielen Menschen in der Schweiz, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzen, oder an die Organisation „Granges Mélanges“, die in meiner Heimatstadt Wertvolles für die Integration von Menschen aus allen Kulturen leistet.

Ich weiß nicht, was diese Menschen glauben. Aber ich will und werde mich niemals dafür schämen, eine radikale Christin zu sein. Denn obwohl ich für andere Religionen nicht sprechen kann, bin ich überzeugt, dass das obige christliche Beispiel das Resultat eines falsch verstandenen, auf Abwege geratenen Glaubens ist. Jesus hätte an den Hasstiraden der Westboro-Babtisten keine Freude gehabt. Er hat Klartext gesprochen, wann immer es nötig war, und die Dinge beim Namen genannt, aber er hat es in Liebe getan – immer mit dem Ziel der Wiederherstellung. Er hat nie einen Menschen aufgegeben oder abgeurteilt.

Als Christin stehen für mich drei Ziele im Zentrum: das gemäß Jesu Aussage wichtigste Gebot zu halten und Gott mit allem zu lieben, was ich bin, und meinen Nächsten wie mich selbst; Jesu Auftrag an seine Jünger zu erfüllen und meinen Glauben weiterzugeben, und Gottes Liebe für andere Menschen erfahrbar zu machen, indem ich mich danach ausstrecke, Jesus jeden Tag ähnlicher zu werden.

Alle drei sind nicht einfach, und das letzte wird erst wirklich vorbracht sein, wenn ich ihm Auge in Auge gegenüberstehe. Wenn ich meinen Glauben radikal, unverdünnt und unverblümt teile und offenlege, muss ich damit leben, dass meine Handlungen als Früchte dieses Glaubens angesehen werden – die Guten, die Mittelmäßigen und die mit Wurm. Trotzdem will ich zu meinen Schwächen stehen und mein Leben nicht beschönigen.

Denn im Grunde gibt es kein kraftvolleres Zeugnis für den christlichen Glauben als Menschen, die sich in all ihrer sichtbaren Unvollkommenheit und Zerbrochenheit geliebt, erlöst und sicher fühlen – so sicher, dass sie sich nicht scheuen, anderen die Pickel und Narben auf ihrer Seele zu zeigen und dennoch auszustrahlen, dass sie im Frieden mit sich sind. Als Gebäude „under construction“, willig, sich zu verändern, aber im Wissen darum, dass nichts sie von der Liebe ihres Gottes trennen kann.

galaxy-10996_640In den letzten beiden Wochen habe ich meine Ferien und bei dem Hudelwetter öfters mal ein gutes Buch oder einen Film genossen. Die Ausflüge in die faszinierenden Welten von Frodo, Captain Picard und Harry Potter haben Spaß gemacht und meine Fantasie angeregt.

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Gleichzeitig bin ich mir in letzter Zeit bewusst geworden, dass wir fürs Eintauchen in andere Universen unser eigenes nicht zwingend verlassen müssen. Rund um uns herum können wir Einblicke in Welten erhaschen, die genauso faszinierend sind.

Letztens hat mir mein Vater erzählt, wie sich der Kleiderkauf für ihn und seine Geschwister abspielte, als er ein Teenager war: die ganze Familie machte sich auf ins Bekleidungsgeschäft der Kantonshauptstadt, wo seine Schwester, eine gelernte Schneiderin, die Qualität der Stoffe prüfte, während sein Vater mit Geschick und Hartnäckigkeit dafür sorgte, dass er für den Großeinkauf einen ansehnlichen Rabatt erhielt. Ich kann mich an meine Kleiderkäufe als Teenager gut erinnern – wie alle in unserer Generation war ich sehr auf meine Unabhängigkeit bedacht, und ein familiärer Pilgerzug durch die ansässigen Geschäfte hätte meine persönliche Würde in höchstem Maß gefährdet.

Fremde Welten eröffnen sich auch in der gleichen Generation: ein enger Freund meines Mannes ist als Bauernsohn mit elf Geschwistern im sanktgallischen Rheintal aufgewachsen. Für seine Geburt reiste die Hebamme im schneereichen Januar mit ihrer Vespa an und verhalf dem neuen Familienspross mit entsprechend eisigen Händen ins Dasein. Wie er meinte, kann man ihm nicht verübeln, dass er sich ob dieser Behandlung stimmgewaltig Aufmerksamkeit verschaffte.

Doch selbst im kleinen Universum meiner Jugend haben verschiedene Welten existiert: ich entstamme einer autolosen Familie und habe jeweils am Montag voller Staunen den Berichten meiner Klassenkameraden gelauscht, die von ihren Familienausflügen in die nahe gelegenen Einkaufscenter namens „Carrefour“ und „Shoppyland“ berichteten – solche Konsumtempel waren für uns als Bahnfahrerfamilie völliges Neuland. Und selbst innerhalb einer Familie klaffen Erfahrungen auseinander: ein früherer Bandkollege ist in Ostdeutschland aufgewachsen und erlebte seine Jugendzeit in der DDR; eine Welt, die für seinen jüngeren Bruder bereits nicht mehr greifbar war.

Wenn ich mir diese Beispiele vor Augen halte, erstaunt es mich fast, dass wir uns untereinander verständigen können. Und meine Liebe zum geschriebenen Wort wird noch verstärkt, weil es einer der besten Wege ist, um uns anderen Menschen mitzuteilen: über die Jahrhunderte haben es Klassiker von Goethe, Shakespeare, aber auch neuere Werke wie Herr der Ringe und viele andere geschafft, Landes-, Sprach-, Religions- und Generationsgrenzen zu überwinden und Menschen auf dem ganzen Globus zu begeistern.

Zu diesen Büchern gehört „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee, das uns in den amerikanischen Süden der 1930er Jahre entführt. Es erzählt die Geschichte von Atticus Finch, ein Anwalt, der einen Schwarzen verteidigt, der fälschlicherweise der Vergewaltigung eine weißen Frau beschuldigt wird. Durch die Augen von Finch’s Tochter Scout tauchen wir in Welten ein, die unterschiedlicher nicht sein könnten – die Welt der angesehenen weißen Bürger, die der Schwarzen, deren Großeltern noch Sklaven waren, und die einer weißen Unterschicht, die am Rande der Gesellschaft lebt und deren Gesetze ignoriert.

Das Buch zeigt deutlich, wie einschneidend Hautfarbe, Religion und sozialer Stand unsere persönliche Welt prägen. Vor allem ruft es in Erinnerung, dass auch die Macht von Worten begrenzt ist und wir einen entscheidenden Schritt machen müssen, wenn wir die Welt unseres Nächsten verstehen wollen. Atticus Finch sagt zu seiner Tochter:

„Du wirst eine andere Person niemals wirklich verstehen, bevor Du die Dinge aus ihrer Sicht betrachtest (…)
bevor Du in ihre Haut schlüpfst und darin herumläufst.“

Manchen Menschen fällt es schwer, sich in andere hineinzufühlen, aber es ist unabdingbar, wenn wir die Grenzen zwischen unseren Welten aufweichen wollen. Und sicher bringt das jeder fertig, der schon mal in einem Buch mit einer Romanfigur mitgelitten hat. Bevor ich mich das nächste Mal in aller Rechtschaffenheit über jemanden aufrege oder herablassend lächelnd über ihn erhebe, will ich versuchen, die Welt aus seinen Augen zu sehen. In was für Umständen lebt er? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich so leben würde? Kann ich von ihm erwarten, dass er sich die Gedanken macht, die ich mir gemacht habe?

In den obigen Geschichten spiegelt sich auch eine ganze Menge Farbigkeit und Vielschichtigkeit. Ist es nicht spannend, dass Menschen um uns herum so vieles zu erzählen haben, was uns neu und fremd ist? Dass wir manchmal weder ein Buch aufmachen noch einen Film anschauen müssen, um ganz neue Welten zu entdecken – sondern nur dem Menschen neben uns ein paar Fragen zu stellen brauchen? Ich freue mich an dieser Andersartigkeit und Vielfalt und hoffe, dass wir mehr und mehr das Fremde und den Fremden in unserer Nähe mit diesen Augen sehen können.

Fällt es Dir leicht, in die Haut von anderen zu schlüpfen? Was für faszinierende Welten und Geschichten aus unserem Universum kennst Du aus Deiner Umgebung? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

I robot 2Letzten Sonntag habe ich mir einen Film angesehen, der vor ziemlich genau zehn Jahren in die Kinos kam. „I robot“ mit Will Smith basiert frei auf einer Buchvorlage von Isaak Asimov, und obwohl ich es normalerweise nicht so mit Robotern habe (abgesehen natürlich von Data in Star Trek und R2D2 in Star Wars), hat mich der Film berührt und zum Nachdenken gebracht.

Im Jahr 2035 unterstützen Robots die Menschen in vielen Bereichen des Lebens als Arbeiter und Helfer. Um sicherzustellen, dass sich ein Robot niemals gegen die Menschen stellt, wurden jedem Exemplar drei Gesetze eingebaut:

Ein Robot darf keinem Menschen schaden oder durch Untätigkeit einen Schaden an Menschen zulassen.

Ein Robot muss jeden von einem Menschen gegebenen Befehl ausführen, aber nur, wenn dabei das erste Gesetz nicht gebrochen wird.

Ein Robot muss seine eigene Existenz bewahren, es sei denn, dies spricht gegen das erste oder zweite Gesetz.

Die Herstellerfirma steht kurz davor, eine neue Generation Robots auszuliefern, als deren Erfinder tot aufgefunden wird. Ist es Selbstmord, oder ist es Mord? Der Polizist Spooner, der den künstlichen Intelligenzen misstraut, macht sich an die Aufklärung des Falls. Dabei lernt er einen Robot kennen, der ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat und sich selbst Sonny nennt. Er findet heraus, dass Sonny eine Zentraleinheit für Emotionen besitzt und als einziger Robot nicht mit dem Zentralcomputer V.I.K.I. verbunden ist.

Schließlich stellt sich heraus, dass die künstliche Intelligenz V.I.K.I. aufgrund der drei Gesetze zum logischen Schluss gekommen ist, dass man die Menschheit entmündigen muss, um sie vor sich selbst zu schützen. V.I.K.I. initiiert mit der neuen Generation Robots einen Putsch Reverse Phone Lookup , um die Macht zu übernehmen. Mit Hilfe von Sonny kann dieser Plan verhindert werden, weil Sonny auch Emotionen in seine Entscheidungen einbeziehen kann und sich nicht zwingend an die Logik der drei Gesetze halten muss.

Als ich über die Entscheidung von V.I.K.I. nachdachte, ist mir ehrlich gesagt als erstes in den Sinn gekommen, dass dieser Silikonhaufen nicht so unrecht hat.

Wir befinden uns in einer optimalen Zeit, um uns darüber klar zu werden, wie weit wir Menschen in unserem Bestreben, in Harmonie mit der Umwelt und im Frieden mit unseren Nachbarn zu leben, schon gekommen sind.

Ein Bericht der Pendlerzeitung „20 Minuten“ von dieser Woche zeigt auf, wie menschenverachtend manche Schweizer in bestimmten Facebookgruppen über Menschen anderer Nationalitäten und Religionen sprechen. In SMS-Spalten meiner Regionalzeitung werden Asylanten als „Gesindel“ bezeichnet. Daneben brodelt es rund um den Globus. Der Nahostkonflikt schlägt Wellen, die auch bei uns zu bedenklichen Reaktionen führen. Ich brauche nur meine Facebook-News anzuschauen, um in eine übelerregende Flut von Rechtfertigungen, gegenseitigen Anschuldigungen und Hass einzutauchen.  Und die Erde, die Gott uns zur sorgfältigen Bewahrung anvertraut hat? Ihr Zustand ist auch nicht gerade ermutigend.

Ich gebe V.I.K.I. Recht – die Menschheit gehört eigentlich entmündigt. Und doch hat der, der es könnte, es nicht getan.

Gott hat uns so geschaffen, dass wir selber entscheiden können. Er hat wissentlich und willentlich keine fleischlichen „Robots“ kreiert, die ihm ohne eigenen Willen zur Hand gehen, weil er ein Gegenüber wollte, mit dem er einen echte Beziehung pflegen kann. Damit ist das Risiko eingegangen, dass wir Mist bauen, was wir natürlich prompt getan haben. Aber Gott hat uns auch da nicht alleingelassen. Er hat uns Hilfe geschickt und damit die Wiederherstellung der Schöpfung eingeleitet. Aber immer noch können wir uns selbst entscheiden – für Gutes oder Schlechtes, jeden Tag neu.

Manchmal verzweifle ich am Zustand der Welt. Ich sehe mein eigenes Unvermögen und brüte  über aktuellen Konflikten. Und es schmerzt mich, wenn es dort am schlimmsten zugeht, wo die Menschen Gott mit in die Gleichung hineinnehmen,  beide Seiten  ihn auf ihrer Seite wissen wollen und zutiefst überzeugt sind, dass er ihnen zum Recht verhelfen wird.

Aber ich sehe auch Lichtpunkte. Menschen in diesen Krisenregionen, die – aus einem klaren, definiertem  Glauben heraus – mit Menschen anderen Glaubens zusammenspannen, sich bewusst entschließen, in der Not theologische Fragen auf der Seite zu lassen, um gemeinsam Not zu lindern.

Und dann bin ich doch wieder froh, dass Gott uns so geschaffen und uns den freien Willen gelassen hat. Wir werden immer mit Fragen wie „Wo war Gott, als…“ kämpfen. Aber letztlich sind wir aufgefordert, zu handeln. Gottes Geschenk des freien Willens verpflichtet uns und fordert uns auf, unsere Hände, unsere Füße, unser Hirn und unser Herz einzusetzen, um etwas zum Besseren zu bewirken. In einem Lied von den Casting Crowns wird diese Herausforderung eindrücklich besungen – und diese Worte will ich mir auch immer wieder neu ins Herz schreiben.

Wenn wir der Leib sind – warum strecken sich seine Arme nicht aus?

Warum heilen seine Hände nicht? Warum lehren seine Worte nicht?

Und wenn wir der Leib sind – warum gehen seine Füße nicht?

Warum zeigt ihnen seine Liebe nicht, dass es einen Weg gibt?

Denn es gibt einen Weg.

Introvert 6Letzten Sonntag habe ich mich mit einem Mitglied unserer Gemeinde über die Ferien unterhalten. Meine fangen bald an, und ich werde sie daheim verbringen. Auf die Frage, ob das nicht etwas hektisch sei, weil viel Besuch hereinschneien könnte, antwortete ich, dass unsere Freunde genau wüssten, dass wir überfallartige Besuche nicht so schätzten.

 

Daraufhin meinte sie überrascht, sie hätte mich als aufgeschlossen und kontaktfreudig eingeschätzt. In den Worten von Bill Murray in „Und täglich grüsst das Murmeltier“: Bin ich. Bin ich. Aber ich bin auch ein introvertierter Mensch.

Amerika, das Land der exzessiven Extrovertiertheit, fängt gerade an, diese Eigenschaft nicht mehr als zu korrigierende Persönlichkeitsstörung anzusehen, und nach der Lektüre zahlreicher Beiträge zu diesem Thema ist mir noch klarer geworden, was den introvertierten Menschen ausmacht. Im Sinne des besseren Verständnisses lasse ich Euch heute an einigen Hauptmerkmalen unserer Spezies teilhaben. Es sind nämlich nicht immer die, an die man denken würde.

Umgepolter Energiefluss

Unter Menschen zu sein, uns zu unterhalten und Beziehung zu pflegen kostet uns Energie. Das heißt nicht, dass es uns keine Freude macht, aber es leert unsere Speicher. Früher oder später müssen wir uns zurückziehen können, um dort aufzutanken, wo es uns möglich ist: im stillen Kämmerlein. Ich liebe Abende allein zuhause, und wenn mein Mann einmal im Jahr mit seinen besten Freunden in ein Männerwochenende fährt, kenne ich nichts Schöneres, als drei Tage für mich zu haben. Ich stehe auf, schreibe, singe lese, gehe spazieren, sehe fern und esse was, wann immer mir danach ist.  Manchmal geht das Wochenende vorbei, ohne dass ich mit einer Menschenseele gesprochen habe, und das füllt meine Batterien wie nichts anderes.

Introvertiert heißt nicht scheu

Ich habe keine Probleme, vor anderen zu sprechen – in der Gemeinde leite ich Lobpreis und mache ab und zu die Moderation im Gottesdienst. An der Launchparty meines CD-Buchs habe ich gesungen, gelesen und moderiert, ohne dass es mich verrückt gemacht hätte. Ich bin nicht scheu, wenn ich auch in neuer Gesellschaft erst zurückhaltend bin. Natürlich gibt es scheue Introvertierte, aber die Schüchternheit ist kein zwingendes Attribut. Und die Gleichsetzung der Begriffe hat zur Folge, dass Menschen wie ich falsch eingeschätzt werden.

Feine Antennen und eine gute Beobachtungsgabe

Introvertierte sind gute Beobachter; viele Schriftsteller gehören zu unserer Sorte. Sie nehmen Details wahr, die anderen entgehen, und können gut in anderen Menschen lesen. Darüber hinaus haben sie oft ein feines Gespür für Stimmungen, Spannungen und Dinge, die unter der Oberfläche geschehen.

Wohl und Wehe des (christlichen) Introvertierten

Die falschen Vorstellungen über das Wesen der Introvertieren führen dazu, dass man uns Dinge vorwirft, für die wir nichts können. Wenn wir uns in Gesellschaft kurz zurückziehen, gelten wir als Partybremsen oder Unsoziale. Wenn wir keine weiteren Termine wollen, gelten wir als Egoisten. Gerade als Christ fühle ich mich mit meiner „Veranlagung“ manchmal fehl am Platz, weil die unbegrenzte Gastfreundschaft so auf den Schild gehoben wird. Es gehört sich, ein „offenes Haus“ zu haben, während Christsein und „My home is my castle“ irgendwie nicht zusammen zu gehen scheint. Hier möchte ich für ein erweitertes Bild der Gastfreundschaft werben, denn auch wir Introvertierte können gastfreundlich sein. Wenn ich Leute einlade, habe ich Freude daran, sie zu bewirten, auf sie einzugehen und mit ihnen einen schönen Abend zu verbringen. Aber ich widme mich ihnen gern im kleineren Kreis und so, dass ich es planen und mich darauf einstellen kann.

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Seid ihr nun völlig überwältigt von diesen komplizierten Typen, die sich Introvertierte nennen? Nur die Ruhe – so schwierig ist das Zusammenleben mit uns nicht. Die folgenden heißen Tipps werden Euch helfen, die Intros in Eurer Umgebung artgerecht zu behandeln:

Dosiert Überraschungen im terminlichen Bereich

Auch wir Introvertierten (jedenfalls die halben Chaoten, wie ich einer bin) können damit umgehen, wenn sich Pläne ändern,  und können uns auf etwas Neues einstellen. Aber wir ziehen es vor,  soziale Kontakte zu planen. Wenn ich mit jemandem ein Treffen vereinbare, stelle ich mich darauf ein, bin dann voll präsent und genieße es. Anrufe um fünf für einen Feierabenddrink um sechs sind dagegen nicht so mein Fall, und spontane Besuche überfordern mich. Wer in der Gegend ist und kurz vorbeikommen will, möge zumindest vorher kurz anrufen (oder noch lieber eine SMS schicken, damit ich mir in Ruhe überlegen kann, wie es mir geht und ob ich Besuch will).

Nehmt unsere Art nicht persönlich

Die vielen Eindrücke, die wir in Gesellschaft aufnehmen, schwächen unsere Schutzschilde. Wenn wir zu lange zu viele Menschen um uns haben und uns nicht zurückziehen können, fühlen wir uns wie das Raumschiff Enterprise mit 10 Prozent Energie auf den Schilden. Irgendwann bricht der Schild, und wir fühlen uns nackt und verwundbar – Stimmungen, Eindrücke und Emotionen der Umgebung prasseln ungehindert auf uns herein. Dann versuchen wir abzuschalten und die Menschen innerlich auf Distanz zu halten. Wir reden und beteiligen uns äußerlich, aber es kostet uns immer mehr Anstrengung. Dadurch wirken wir manchmal unfreundlich, abweisend oder sogar arrogant. Wenn ihr so einen Eindruck von uns habt – fragt uns einfach, ob wir einen Overflow haben. Wir werden für das Verständnis dankbar sein!

Urteilt uns nicht als Egoisten ab

Wir wollen nicht einfach unser egoistisches kleines Leben führen – wir können schlicht nicht funktionieren, wenn wir nicht genug Zeit für uns selbst haben, und mit leeren Batterien bringen wir auch anderen nichts. Unser Bedürfnis nach dem Alleinsein ist existenziell, und wenn uns jemand gar kein Verständnis entgegenbringt und durchblicken lässt, dass er uns für eigennützig hält, verletzt uns das.

Fordert uns heraus – aber liebevoll

Ich gebe es zu: wenn man den Introvertierten einfach in Ruhe lässt, besteht die Gefahr, dass er nur für unabdingbare Verpflichtungen aus seiner Höhle herauskriecht. Wir wissen das und sind dankbar, wenn andere ab und zu an die Höhlentür klopfen. Aber tut es sachte und vorsichtig. Überrumpelt und manipuliert uns nicht: das nehmen wir sehr übel, und es wird Eure Chancen, beim nächsten Mal unser Wohlwollen auf Eurer Seite zu haben, empfindlich verkleinern.

Der letzte Appell

Glaubt uns, dass wir nicht anders können und dass dies kein Charakterfehler, sondern eine Charaktereigenschaft ist. Akzeptiert unsere Andersartigkeit. Erzählt uns nicht ständig, wie toll ihr Leute findet, die ein offenes Haus haben und so wunderbar spontan sind. Das nehmen WIR nämlich persönlich. Versucht, unsere Introvertiertheit als etwas Positives zu sehen: wir haben in Gesellschaft die Gabe, uns voll und ganz auf den anderen einlassen. Wir müssen nicht im Mittelpunkt stehen und hören gern zu. Aber dafür müssen wir genug Ressourcen haben. Lasst uns diesen Raum, ohne uns anzuklagen oder als unsozial abzuschreiben. Es lohnt sich auch für Euch.

Und wie geht es Euch anderen?! Aufruf zur Völkerverständigung!

Dieses Post hat mir gezeigt, wie fremd wir einander sein können und wie wenig wir manchmal verstehen, was im anderen vorgeht. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn das Alleinsein einen auslaugt und  man im Zusammensein mit anderen Energie tankt. Nachdem ich also meine Befindlichkeit so ausführlich ausgebreitet habe, lade ich Euch herzlich ein, dasselbe zu tun:

Wie ist das Leben als Extrovertierter? Worunter leidet Ihr?
Was müssen wir Intros wissen, um besser auf Euch einzugehen?
Was macht Ihr, wenn Ihr auftanken wollt und niemanden habt, der etwas mit Euch unternimmt?
Tanken Extrovertierte bei allen Menschen auf, oder kommt es darauf an, wer es ist – und ist das Motto „Je mehr, desto besser?“
Und Ihr Intros da draußen: habe ich es getroffen? Oder erlebt Ihr das Introvertiertsein ganz anders? Ich freue mich auf Euren Kommentar!

Samwise GamgeeNachdem ich es mir nicht nehmen ließ, den WM-Final in voller Länge zu genießen – bei dieser Gelegenheit herzliche Gratulation an unsere Nachbarn! – habe ich mich inzwischen wieder in mein altes, dem Fußball eher apathisch gegenüberstehendes Ich zurückverwandelt. Und ich habe festgestellt, dass es eine Ewigkeit her ist, seit ich mir das letzte Mal das „Herr der Ringe“-Epos zu Gemüte geführt habe.

Diese Geschichte und die starken Bilder faszinieren mich immer wieder aufs Neue, und ich staune besonders über Tolkiens unerschöpfliche Fantasie bei der Erschaffung seiner Wesen: schon unter Frodos Gefährten finden sich die unterschiedlichsten Charaktere mit ihren eigenen Lebensthemen und ganz besonderen Zügen.

Da gibt es Zwerg Gimli mit seiner Abneigung gegenüber den Elfen, dessen raue Schale ausgerechnet von der Elfenfrau Galadriel geknackt wird. Gimlis grummlige Kommentare tragen viel zum Spaß an Buch und Film bei, und seine sich vertiefende, ungewöhnliche Freundschaft zum Elfenkönig Legolas ist skurril und zauberhaft zugleich.

Dann Legolas selbst, der äußerlich das pure Gegenteil von Gimli markiert: schlank und hochgewachsen, mit glattem Blondhaar, heller Haut und feinen Zügen. Doch trotz dieses Äußeren ist Legolas ein genauso unerschrockener Kämpfer wie sein Zwergenfreund. Ich liebe die Bilder, in denen seine scharfen Elfenaugen das nächste Ziel ausmachen, er geschmeidig einen Pfeil nach dem anderen aus dem Köcher zieht und die Orks reihenweise umnietet.

Schließlich Aragorn, der zukünftige König von Gondor. Er steht Gimli und Legolas bezüglich Kampfesmut in nichts nach, aber er hat eine besondere Bürde zu tragen: als letzter Abkömmling des Geschlechts der Numenòr muss er sich erst dazu durchringen, sein Erbe anzutreten. Er fürchtet sich vor der Verantwortung, und nur das Vertrauen und der Zuspruch seiner Freunde überzeugen ihn, dass er dieser Herausforderung gewachsen ist und nicht aufgrund seiner menschlichen Schwächen scheitern wird.

Im Vergleich zu diesen schillernden und streitbaren Figuren ist Samwise Gamgee unauffällig. Trotzdem berühren mich sein Kampf und sein Weg am meisten. Er ist nicht der beste Kämpfer und nicht der strahlendste der Gefährten, aber ohne ihn hätte Frodo es niemals auf den Schicksalsberg geschafft. Treu steht er Frodo bis zum Ende bei und kämpft dabei vielleicht den härtesten und bittersten Kampf, als seine Loyalität in Frage gestellt wird.

Während des Aufstiegs im Gebirge kommt es zu einem Streit, weil der gesamte Essensvorrat verschwunden ist. Frodo verdächtigt Sam, und obwohl Sam seine Unschuld beteuert, glaubt ihm Frodo nicht. Zu lange war er der Kraft des Rings ausgesetzt, zu lange hatte der intrigante, vom Ring besessene Gollum sein feines Gift versprüht und in Frodo den Verdacht genährt, dass Sam den Ring für sich will. So schickt Frodo Sam fort, und Sam macht sich mit gebrochenem Herzen auf den Heimweg.

Doch auf dem Rückweg entdeckt er an einem Felsvorsprung die Überreste ihrer Vorräte, und ihm wird klar, dass Gollum das Essen mit Absicht weggeworfen hat, um Frodos Misstrauen gegen ihn zu schüren. Sam zögert keine Minute, kehrt um und kann Frodo im letzten Moment vor der Riesenspinne Kankra retten.

Wenn ich mir Sams Geschichte ansehe, staune ich immer wieder über seinen Mut, seine Entschlusskraft und vor allem seine Demut, die ihn dazu gebracht hat, seinen verletzten Stolz zu überwinden und Frodo nachzugehen. Wie konnte er die Zurückweisung hintanstellen und sich wieder auf den beschwerlichen Weg den Berg hinauf machen, wo er doch wusste, dass Frodo ihm nicht glaubte?

Ich glaube, der erste und wichtigste Grund dafür war Sams Versprechen an Gandalf, auf Frodo achtzugeben. Es hatte sich unauslöschlich in Sams loyales Herz gebrannt und ließ ihm keine Ruhe. Dann wusste er auch sehr genau, dass sich sein Freund auf dem Weg zum Schicksalsberg in Lebensgefahr befand. Und schließlich war Sam klar, dass von Frodos Erfolg das Schicksal von ganz Mittelerde abhing.

Was aber wäre, wenn der Fall anders liegen würde? Wenn es dieses Versprechen nicht gegeben hätte, Frodos Leben nicht gefährdet und Frodos Erfolg keine Schicksalsfrage für Mittelerde gewesen wäre? Wäre Sam dennoch umgekehrt? Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich hätte es nicht getan. Ich hätte Frodo ziehen lassen und gehofft, dass er sich irgendwann eines Besseren besinnen würde.

Sam kehrt schließlich mit den anderen Hobbits in sein geliebtes Shire zurück, und die überstandenen Abenteuer verleihen ihm den nötigen Mut, um seiner angebeteten Rosie seine Liebe zu gestehen. Das dürfte ihn mindestens so viel Mut gekostet haben wie all die Momente, in denen er dem Tod ins Auge blickte. Dass er Erfolg hat, gönne ich ihm vom Herzen. Aber ich glaube, sein größter Lohn war der Moment, in dem er Frodo im Berg vor der Spinne retten konnte und ein Blick in Frodos Augen ihm klarmachte, dass er das Vertrauen seines Freundes wieder gewonnen hatte.

Ich tauche immer wieder gern in Tolkiens Welt der schillernden Figuren ein, und ich hoffe, dass ich in den nächsten Wochen wieder einmal Zeit für den epochalen Zehnstünder finde. Ich werde mit einer Schachtel Popcorn gespannt vor dem Bildschirm sitzen und all die schillernden Kämpfer und Streiter bewundern. Aber vor allem wird mein Herz wieder bei Sam sein, und ich werde mich mit ihm freuen, dass sein Mut und seine Treue am Ende mit der Sicherheit für Mittelerde und sein Shire, mit einer liebenden Frau und mit dem wiederhergestellten Vertrauen seines Freundes belohnt werden.

Bist Du auch bekennender LOTR-Freak? Und falls ja: wer ist DEIN Held in dieser Geschichte? Welche Stellen im Buch oder Film berühren Dich am meisten? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

Brasiliens SchandeDienstag Abend habe ich schweren Herzens darauf verzichtet, mir den Halbfinalkracher Brasilien-Deutschland anzusehen – ich bin zwar kein Fußballfanatiker, aber die WM hat mich doch etwas gepackt. Schließlich habe ich aus reiner Vernunft den Weg ins Bett angetreten. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, warf ich sofort einen Blick ins Internet. Und ich konnte kaum glauben, was da zu lesen war.

Brasilien – Deutschland 1:7.

Was für eine Niederlage und Enttäuschung für den Gastgeber Brasilien! Ich versuchte, mir vorzustellen, was in den Spielern und Fans wohl vorgegangen ist in diesem harten Minuten und Stunden. Dabei habe ich mich an ein anderes, ähnlich dramatisches WM-Spiel erinnert, das für Brasilien besser ausgegangen ist: der WM-Final 1994, in dem Brasilien zum vierten Mal Weltmeister wurde. Die tragischste Rolle in diesem Spiel gehörte dem Italiener Roberto Baggio.

1994 war Baggio auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In der vorherigen Saison hatte er mit Juventus Turin den Uefa-Pokal geholt; 1993 war er als Weltfußballer des Jahres geehrt worden. Nun stand er mit Italiens Nationalmannschaft im Finale der Weltmeisterschaft gegen Brasilien. Nach hart umkämpften 90 Minuten und weiteren 60 Minuten Verlängerung musste das Spiel im Elfmeterschießen entschieden werden. Bereits hatten je zwei Spieler der beiden Mannschaften ihre Bälle versenkt, als Baggios Teamkollege Massao seinen Penalty verschoss. Da der nachfolgende brasilianische Spieler das Tor machte, lag das Schicksal der italienischen Elf in den Füssen von Roberto Baggio.

Baggio hatte an dieser WM schon viele Male getroffen. Doch dieses Mal verließen in die Nerven oder auch nur das Glück. Er verzog seinen Schuss, und der Ball ging weit über das Tor hinweg. Brasilien war Weltmeister, und Roberto Baggio wurde von einem Moment zum anderen der meistgehasste Mann Italiens.

Wer sich eine Karriere als Sportler aussucht, ist naturgemäß ein Mensch mit einem starken Siegesdrang; ein Mensch, der besser sein will und der seine Identität und sein Selbstvertrauen auch aus seinem Erfolg schöpft. Was muss in Baggio vorgegangen sein? Wie hat er diese Schmach überstanden?

Und wie tun es die brasilianischen Spieler heute? Zumindest einer von ihnen weiß, dass seine Identität nicht vom Siegen abhängt und dass er sein Leben vertrauensvoll in andere Hände legen darf. Die Facebook-Seite „Glaubensimpulse“ hat ein paar Zitate von Spielern abgedruckt, die von ihrem Glauben Zeugnis geben. Dabei hat sich David Luiz Moreira Marinho so geäußert:

„Mein ganzes Leben gehört Gott.
Er hat meinen Lebensweg bereits vorgezeichnet, er kennt den Sinn.
Und das reicht.“

Auch unter deutschen Fußballern gibt es einige, die aus dem Glauben Kraft schöpfen. Der bekannteste dürfte Claudemir Jerônimo Barreto (Cacau) sein, der von 2009 bis 2012 der deutschen Nationalmannschaft angehörte. Er hat sich noch etwas deutlicher ausdrückt:

„Kein Mensch kommt als Christ zur Welt.
Man muss sich entscheiden, ob man mit Gott leben will oder nicht.“

Ich selbst konnte lange Zeit gar nicht nachvollziehen, wie man aus seinen Erfolgen seine Identität ableitet. Ich war zwar immer eine erfolgreiche Schülerin, ohne viel dafür zu tun, aber ich habe daraus nie mein Selbstvertrauen bezogen; ich suchte die Bestätigung woanders. Beruflich  hatte ich null Ehrgeiz oder Ziele.

Seit ich meine Leidenschaft für das Schreiben und damit meine Berufung gefunden habe, spüre ich erstmals einen Druck, Erfolg zu haben, wünsche mir Anerkennung oder verspüre Angst davor, nicht anzukommen. Umso dankbarer bin ich für die Zuversicht, dass meine Identität nicht davon abhängt, ob meine Bücher und Texte gelesen werden, ankommen oder nicht ankommen. Sonst müsste ich anfangen zu überlegen, ob meine Themen und meine Art zu schreiben marktfähig sind oder ob ich nicht lieber auf eine gerade angesagte Schiene aufspringen sollte. So aber bin ich frei, genau das zu schreiben, was mir auf dem Herzen brennt.

Dass die gestrige Niederlage bei den Brasilianern Wunden hinterlassen wird, ist klar. Vor Schmerz und Enttäuschung sind auch gläubige Menschen nicht gefeit, wie die Tränen von Luiz im Interview so berührend klarmachen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass bei ihm und den anderen, die auf diesen Felsen bauen, die Gewissheit tief verankert bleibt, dass man auch in einem Karrieretief bei Gott niemals seinen Wert verliert.

Und heute Abend halte ich es übrigens mit Holland und Wesley Sneijder, für den ich seit der EM 2008 ein wenig „fane“ und der bei „Glaubensimpulse“ auch mit einem Zitat verewigt ist:

„Mein Glaube gibt mir Kraft und nur Gott entscheidet, wo meine Zukunft liegt.“

Kennst Du das Dilemma „Identität aus Erfolg“? Hast Du Dir das Spiel angesehen und mitgelitten? Und für wen „fanst“ Du am Sonntag?

Benis Perle 3„Die Fähigkeit, das Leid um des Guten, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit willen anzunehmen, ist unverzichtbar und bestimmt das Maß der Menschlichkeit. Wenn mein Wohlbefinden, mein Unverletztbleiben wichtiger ist als Wahrheit und Gerechtigkeit, dann gilt die Herrschaft des Stärkeren; dann dominiert die Gewalt und die Lüge. Die Wahrheit, die Gerechtigkeit muss über meiner Bequemlichkeit und meiner physischen Unversehrtheit stehen, sonst wird mein Leben selber zur Lüge.“

Kürzlich bin ich beim Lesen eines Posts über dieses Zitat gestolpert. Im Original ist es noch etwas umständlicher formuliert; es stammt von einem sehr belesenen und intellektuell brillanten, aber eher trockenen Gelehrten. Die Zeilen sind ein Ausschnitt aus §38 der Enzyklika „Spe salvi“ von Benedikt XVI., und sie haben mich zum Nachdenken gebracht.

Im ersten Augenblick habe ich nicht gesehen, was das alles mit mir tun hat. Wann muss ich in unseren verwöhnten Breitengraden schon um meine physische Unversehrtheit fürchten, wenn ich für Gerechtigkeit einstehe? Wann muss ich Leiden in Kauf nehmen? Beim näheren Betrachten ist mir aber aufgegangen, dass sich auch abstrakte Begriffe wie Unversehrtheit, Wohlbefinden, Wahrheit und Gerechtigkeit auf mein Alltagsleben herunterbrechen lassen.

Ich habe auch schon Situationen erlebt, in denen ich mich entscheiden musste, ob ich mein eigenes Wohl oder einen ethischen Wert höher gewichten will, und leider handle ich nicht immer so couragiert, wie ich es mir wünschen würde. Wenn ich realisiere, dass eine konsequente Handlung mich in eine unbequeme Lage bringen könnte, finde ich manchmal rasch einen Grund dafür, gerade jetzt nichts zu tun. Ich bringe Ausreden wie „Es würde ja doch nichts ändern“ oder verschiebe es auf später à la „Vielleicht kann man das mal in einem ruhigen Augenblick ansprechen“ – und mache nichts.

Das liegt zum einen an meiner leider noch nicht ganz überwundenen Gefallsucht und Konfliktangst – ein Teil von mir möchte immer noch, dass alle mit mir zufrieden sind und krümmt sich innerlich beim Gedanken, dass jemand meine Aktionen oder Worte missbilligt. Zum anderen ist mir klar, dass es in den wenigsten Fällen eine absolute Wahrheit gibt und dass mein Eindruck falsch sein kann. Was mich stört, ist für andere völlig in Ordnung. Und was ich normal finde, kann jemand anderen in den Wahnsinn treiben.

Ob ich es doch wage, hängt oft davon ab, was für Reaktionen ich erwarten kann. Wenn ich spüre, dass mein Feedback willkommen ist, werde ich es eher wagen, meine Meinung zu sagen. Wenn ich hingegen auf einen vorsichtigen Versuch hin eine abwehrende Reaktion erhalte, gebe ich erst einmal Ruhe, und je länger die unbefriedigende Situation anhält, desto eher laufe ich Gefahr, zu resignieren und mich zurückzuziehen. Auch wenn es nutzlos ist, bedauere ich heute Situationen, in denen ich zu lange gezögert habe, weil ich Angst hatte, jemanden zu verletzen, mich unbeliebt zu machen oder eine Beziehung aufs Spiel zu setzen. Genützt hat mein Zögern nämlich auch in dieser Hinsicht nichts.

Was nicht ist, kann noch werden, und auch wenn die Menschheit aus der Geschichte wenig bis nichts lernt, will ich mich damit persönlich nicht zufrieden geben. Ich will mein Wohlbefinden, in diesem Fall das Bad in konfliktfreien Gewässern und ohne Gegenwind, nicht höher werten als das Einstehen für das, was ich richtig und gerecht finde, auch wenn ich weiß, dass ich selbst nicht immer den absoluten Durchblick habe. Am Ende bleibt uns nichts anderes, als nach Abwägung verschiedener Sichtweisen zu entscheiden, wie wir eine Sache beurteilen, und danach zu handeln.

Wenn wir das tun, riskieren wir etwas. Vielleicht entstehen erst einmal negative Gefühle, vielleicht werden wir ausgelacht, angeklagt oder abseits gestellt. Aber wir stählen unsere Muskeln der Zivilcourage, denn unsere kleinen Entscheidungen im Alltag formen uns für größere Herausforderungen und bestimmen mit, wie wir uns verhalten werden, wenn einmal eine schwierigere Aufgabe vor uns liegt.

Wie wollen wir in unserem friedlichen Land sonst lernen, für etwas einzustehen? Wo wollen wir üben, aus unserer Komfortzone herauszukommen und böse Blicke und Verurteilungen auszuhalten, wenn nicht in bescheidenen Alltagssituationen, wo es vermeintlich „nicht so wichtig ist“?

Bei allem Wissen darum, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und das Gute Begriffe sind, die von allen Seiten in Anspruch genommen werden und sich in einer Konfliktsituation nicht immer klar zuweisen lassen, will ich mich nicht hinter dieser Relativierung verstecken. Ich will darauf vertrauen, dass mich mein Urteilsvermögen nicht täuscht, und neben den Fakten weiterhin meinem im Rückblick recht treffsicheren Bauchgefühl vertrauen, das mir sagt, wenn etwas faul ist.

Inmitten dieser Grübeleien ist mir das Sprichwort in den Sinn gekommen, das unter anderem den Chinesen, dem Talmud  und Ghandi zugeschrieben wird (soviel zu verschiedenen Sichtweisen):

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.

Ich will die Gedanken, die ich hier in Worten ausgedrückt habe, in Handlungen umsetzen. Dann können sie zu Gewohnheiten werden und meinen Charakter formen, der mein Schicksal mitbestimmt.

Was bedeutet für Dich „Zivilcourage“? Fällt es Dir leicht, für etwas einzustehen? Wo findest Du es am schwierigsten: in der Öffentlichkeit, Zuhause oder unter Freunden? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

 

??????????Mein Post über „Needful Things“ beschäftigt mich immer noch. Das liegt unter anderem daran, dass ich das Buch erst gerade ausgelesen habe und es eine Menge neuer Gedankenfunken ausgelöst hat. Vor allem hat es mich daran erinnert, was mich am Fach Geschichte fasziniert: nicht das Auswendiglernen von Daten, sondern das Verständnis dafür, dass aktuelle Situationen auf früheren Ereignissen und Entwicklungen beruhen.

Anfang August ist es 100 Jahre her, dass sich der lokale Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu einem Kontinentalkrieg und später zum Ersten Weltkrieg ausdehnte, und heute feiern wir 70 Jahre „D-Day“ – den Tag, an dem die Alliierten in der Normandie landeten und der die Wende im Zweiten Weltkrieg markiert. Diese Großereignisse lassen sich kaum anhand einer einzigen Ursache erklären, aber die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hilft uns, besser zu verstehen, was auf anderen Kontinenten, fernen Ländern oder in unserem eigenen Land und Leben vor sich geht.

Quelle: Staatsarchiv LuzernHeute kann sich zum Beispiel niemand mehr vorstellen, dass auf unserem Boden vor weniger als 200 Jahren ein innerschweizerischer bewaffneter Konflikt entbrannte. Die katholisch dominierten, föderalistisch geprägten Kantone schlossen sich gegen die protestantisch und zentralistisch eingestellte Mehrheit zusammen, was schließlich zum Bürgerkrieg führte.

                                                                                           Quelle: Staatsarchiv Luzern

Dank der klugen Kriegsführung von General Dufour starben im kurzen Sonderbundskrieg weniger als 200 Menschen – ein Punkt, der im Ausland sicher ein amüsiertes Lächeln auslöst: ach, und DAS nennt Ihr Krieg? Dennoch war unser Land davor und danach tief gespalten. Die Katholiken waren über 40 Jahre von der Regierung ausgeschlossen. Die Jesuiten wurden aus der Schweiz ausgewiesen, und der Jesuitenartikel, der den Orden in der Schweiz verbot, war bis 1973 Bestandteil unserer Verfassung. Noch in der Generation meiner Eltern wurde eine Heirat zwischen Katholiken und Protestanten nicht gern gesehen.

Wir können uns das heute nur noch schwer vorstellen – dabei sind wir selbst ein Produkt unserer Vergangenheit, und mit ein bisschen Nachdenken und „In-uns-gehen“ können wir oft herausfinden, wo die Ursachen unseres Verhaltens, unserer Vorlieben, unserer Fähigkeiten und Gewohnheiten verwurzelt sind. Ich gehe zum Beispiel gern spazieren und kann in der Natur, in der Weite, der Stille und der frischen Luft gut auftanken. Und ich erinnere mich an meine Kindheit mit Wochenendbräteln am Waldrand und Wanderferien im Berner Oberland. Als Teenager fanden wir diese Art Ferien nicht mehr so prickelnd, aber sie haben den Grundstein dafür gelegt, dass wir heute die Natur und die Bewegung im Freien so schätzen.

Natürlich trägt jeder Mensch auch an Erinnerungen und Erlebnissen, die Narben und oft eine innere Wachsamkeit hinterlassen haben. Wie eine Katze, die sich das Fell angesengt hat, oder ein Hund, der getreten worden ist, machen wir um bestimmte Situationen oder Charaktere einen weiten Bogen – manchmal ohne zu wissen, warum.

Ich habe noch immer Verhaltensweisen an mir, die ich mir nicht ganz erklären kann, erlebe Momente, „wo’s mer eifach tuet“, wo ich meine Reaktionen nicht kontrollieren kann. Und ich möchte erfahren, was dem zugrunde liegt. Das unkomplizierte Verhältnis, das heute zwischen Schweizer Katholiken und Protestanten herrscht, beweist mir, dass sich auch tiefe Gräben auffüllen und Verletzungen heilen lassen – sowohl im Gedächtnis eines Staates als auch im Hirn und Herz eines einzelnen.

Wir sind keine Sklaven unserer Vergangenheit. Wir können uns gegen unsere eigenen Verformungen stemmen, und wenn wir mit Gott in Beziehung stehen, können wir Verletzungen und Schmerz immer wieder bei ihm abgeben. Und wir schaden uns selbst, wenn wir unsere Vergangenheit als Schutzschild und Ausrede verwenden, um in unseren Verkrümmungen zu verharren und allen anderen die Schuld zu geben. Wir sind es uns selbst und anderen schuldig, uns nach innerer Freiheit auszustrecken.

Manchmal brauchen wir für so einen Prozess externe Hilfe. Aber egal, wie schwer unsere Last ist: Gott ist grösser als unsere Verletzungen. Er ist in der Lage, die härtesten Verkrustungen aufzubrechen, dass wundeste Herz zu heilen – wenn wir es wollen, wenn wir Geduld haben und wenn wir uns ihm immer wieder hinhalten.

Der D-Day symbolisiert die Wende im Zweiten Weltkrieg. Wenn ich mir bewusst werde, dass ich noch Befreiung brauche, und mich innerlich aufmache, um diese Befreiung zu erleben, kann auch ich den D-Day feiern.