Die warmen Monate zeigen auch im Garten ihre Wirkung, und unser Flieder schickt sich an, voll zu erblühen. Weil die Pracht von kurzer Dauer ist, nutze ich die Gelegenheit: Ich bewaffne mich mit einer Gartenschere, schneide die schönsten Äste heraus und mach mich auf den Weg zum Friedhof, um das Grab meiner Mutter zu schmücken.
Ihr Urnengrab liegt am Rand des Friedhofs. Ich stecke meinen Fliederstrauß in einer Vase in die Erde und bleibe eine Weile stehen. Wie immer erinnert mich die Grabinschrift an den Anruf meines Vaters vor bald zehn Jahren, der meine Welt so unwiederbringlich erschüttert hat. Ich halte mein traditionelles, kurzes Zwiegespräch mit Gott, nehme ihm das Versprechen ab, sich um meine Ma zu kümmern. Dann wird es Zeit zu gehen.
Auf dem Rückweg komme ich an einem steinernen Brunnen vorbei. Schon vor über dreißig Jahren plätscherte hier Wasser in den Trog, während meine Mutter ihre Gießkanne füllte, um die Blumen auf dem Grab ihrer Eltern zu gießen. Sie hatte mit 25 Jahren ihre zweite Tochter geboren und war mit 27 Vollwaise geworden. Ich verbrachte manchen Nachmittag nach dem Kindergarten mit ihr auf diesem Friedhof, doch erst heute erinnere ich mich an die Stille, die Trauer inmitten blühender Beete und prächtiger Bäume. Ich erinnere mich plötzlich auch an den Grabstein – rötlich, mit einem schrägen Kubus in der oberen Hälfte, wie ein symbolisches Kreuz, darunter in großen Druckbuchstaben die Namen.
Heute erinnert nichts an die Gräber. Moos, Gras und Unkraut machen sich breit, wo vorher Menschen um ihre Angehörigen trauerten. Ich suche die Stelle, wo die beiden lagen, stelle mich auf das weiche Moos und denke ihnen nach – meinen Großeltern und meiner Ma, die ihre Mutter bis zum Tod pflegte und sich danach mit der gleichen Treue um das Grab ihrer Eltern kümmerte.
Auf dem Weg zum Ausgang schaue ich mir die leeren Urnengräber und die grünen Wiesen an. Irgendwo dort könnte ich auch einmal zu liegen kommen. Mir ist egal, wo das sein wird – was von mir an diesem Ort liegen wird, ist nur eine Hülle. Aber während ich mir den Grabstein vorstelle, frage ich mich, was für ein Mensch ich wohl sein werde, wenn ich das Zeitliche segne. Was wird man über mich sagen? Womit möchte ich in Verbindung gebracht werden, wenn es soweit ist?
Die verschwundenen Gräber meiner Großeltern legen Zeugnis ab, wie schnell die materiellen Spuren unseres Daseins auf dieser Erde verschwinden. Asche zu Asche und Staub zu Staub. Wenn wir etwas hinterlassen wollen, dann muss es von anderer Natur sein.
Das Friedhofstor schließt sich hinter mir. Nach zwei Minuten habe ich die Tür zu unserem Grundstück erreicht. Ich durchquere unseren Garten und steige die Treppe zum Haus empor. Der Friedhof im Hintergrund grüßt mich mit seinen blühenden Bäumen und erinnert mich leise an den Tag, wo auf dem Grabstein mein Name stehen wird. Doch bis dahin habe ich noch einiges vor und – so Gott will – auch noch etwas Zeit dafür.
Ich will etwas hinterlassen, das in den Herzen der Menschen lebendig bleibt, und ich wünsche mir, dass mein Leben Kreise zieht. Aber am Ende ist die Größe des Kreises nicht wichtig. Es soll genügen, wenn ein einziger Mensch durch etwas, das ich gesagt, getan, geschrieben oder gesungen habe, sich selbst, die Welt und Gott mit anderen Augen sieht.
Und ich will nie aufhören, mich zu verändern und dazuzulernen. Deshalb kann ich mir auf meinem Grabstein den Satz vorstellen, den Ruth Graham, Frau von Billy Graham, für ihren Stein von einem Straßenschild übernommen hatte:
Ende der Bauarbeiten – Danke für Ihre Geduld.
Was soll mal auf Deinem Grabstein stehen? Was möchtest Du unbedingt erreichen? Oder findest Du die Vorstellung ultragruselig? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!
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