Als den Meiers im kleinen Ort Liesberg vor siebzig Jahren nach zwei Knaben und einem Mädchen der dritte Bub geboren wurde, wussten weder sie noch er, dass er einmal in der Uhrenstadt Grenchen landen, hier seine Familie großziehen und die Stadt mitprägen würde. Doch genau so sollte es kommen, und damit beginnt die Geschichte meines Pa.
Viele seiner Lebensstationen sind mir aus seinen Erzählungen bekannt. Sie malen das Bild einer Zeit, die uns heute fremd und exotisch vorkommt: Die Kinder sammelten im Wald Holz für die Heizung, und im Estrich wurden Würste geräuchert. Jedes Kind durfte nur ein Hobby haben – im Fall meines Pa die Pfadfinder, wo er den Namen „Knorrli“ erhielt – weil die Zeit neben der Schule und den Arbeiten im und ums Haus nicht für mehr reichte.
Schon früh war für meinen Pa klar, dass er Lehrer werden wollte: Seine Begabung, Menschen zu führen, ihre Talente zu erkennen und sie anzuleiten, war schon in den Jahren bei den Pfadfindern prägend und prädestinierte ihn für diesen Beruf, der zur Berufung wurde. Bald fand er seine Lebensstelle als Sportlehrer in einem Kinderheim, wo er rund 40 Jahre tätig war. Von dieser Stelle konnte nebenbei auch seine junge Familie profitieren: Wir verbrachten viele Sonntage in der Turnhalle, schwangen uns an Seilen auf dicke Matten, sprangen auf dem Trampolin herum und plantschten im Hallenbad.
Daneben investierte sich Pa in der Gemeinde- und Kantonspolitik. Er präsidierte die lokale und regionale Sozialdemokratische Partei und war über zwanzig Jahre Gemeinde- und Kantonsrat. Sein Engagement galt auch hier den Kindern und Jugendlichen, und mit dem gleichen Herzblut baute er mit unserer Ma den Grenchner Ferienpass auf.
Vor elf Jahren, als Pa 59 Jahre alt war und so langsam an die Zeit nach dem Arbeitsleben denken konnte, starb unsere Ma im Alter von 55 Jahren überraschend an einer Hirnblutung. Das veränderte sein und unser Leben unwiederbringlich. Mein Pa organisierte sich neu und konnte den schweren Verlust dank seines guten Beziehungsnetzes verkraften; doch die Wunde blieb tief, und die Trauer hält an. Dennoch hat dieser Schicksalsschlag auch eine schöne Blüte hervorgebracht: in der tieferen und engeren Beziehung zwischen Pa und seinen Töchtern.
In unserer kleinen Familie war Ma der emotionale und kommunikative Klebstoff gewesen: Sie hielt Pa über unser Leben auf dem Laufenden, erzählte ihm, was wir so trieben und wie es uns ging. Ich erinnere mich noch heute an ein typisches Wochenendgespräch am Mittagstisch aus meiner Teenagerzeit: Pa fragte unsere Ma – wohlgemerkt in unserer Gegenwart – was „Die Kinder für ein Programm haben“, worauf Ma leicht genervt sagte, er solle uns doch selbst fragen.
Kurz vor Ma‘s unerwartetem Tod verbrachten meine Schwester, unser Pa und ich eine gemeinsame Singwoche an der Lenk, und obwohl wir es nicht wussten, bereitete uns die gemeinsame Zeit auf das vor, was kommen sollte. Als Ma starb, hatten wir so ein kleines Fundament, auf das wir aufbauen konnten.
Ein paar Jahre später habe ich geheiratet und bin 2010 mit meinem Mann in meine Heimatstadt gezogen. Nun lebe ich zehn Fußminuten von meinem Pa entfernt; wir sehen uns regelmäßig für seine Englischaufgaben und treffen uns am Freitag oft auf einen Kaffee in der Stadt.
Heute, an seinem 70. Geburtstag, denke ich wieder an unseren Verlust und trauere darum, dass Ma nicht dabei sein kann. Ich freue mich aber auch an diesen Blüten, die zwischen den Dornen der Trauer blühen durften. Ich freue mich, dass ich Pa heute viel besser kenne, als es mir als Kind möglich war.
Heute erkenne ich seine tiefe Emotionalität, die sich wie bei mir und meiner Schwester oft hinter einer reservierten Fassade verbirgt. Als Kinder bemerkten wir sie nur, wenn Pa bei einem schönen Film genauso viele Tränen vergoss wie wir. Heute sehe ich, wieviel Anteil Pa am Leben seiner Familie und seiner Freunde nimmt. Und auf geheimnisvolle Weise hat Ma’s Tod eine Fürsorglichkeit freigesetzt, die vorher, weil nicht gebraucht, nicht sichtbar war.
Ich freue mich heute auch am Erbe unseres Pa im Charakter seiner Kinder. Während meine Schwester optisch das Abbild unserer Ma ist, hat sie seine Durchsetzungskraft und sein Charisma geerbt, die Fähigkeit, die Gaben anderer zu erkennen, sie einzusetzen und die Freude daran, anderen etwas beizubringen. Ich wiederum komme äußerlich stark nach meinen Pa und habe sein zurückhaltendes und doch intensives Wesen geerbt, genauso wie seine Freude und Begabung, sich schriftlich auszudrücken. Und in letzter Zeit erkenne ich sein Erbe auch in einer Eigenschaft, von der ich lange nicht dachte, dass sie mir eigen ist.
Wenn ich mir seine Geschichte betrachte, sehe ich Kraft, Entschlossenheit und einen unbeirrbaren Glauben an sich selbst, Eigenschaften, die ihn in seinem Leben viel haben erreichen lassen. In den letzten Jahren sehe ich dieses Erbe in meinem Leben vermehrt Früchte tragen: Ich glaube nicht, dass ich meine CD- und Buchveröffentlichung ohne Entschlossenheit und diesen Glauben an mich selbst gemeistert hätte.
Heute widmet Pa einen großen Teil seiner Zeit seiner Familie. Ihr Glück und Wohlergehen sind ihm das Wichtigste, und ich spüre und sehe seine Freude an und seinen Stolz auf seine Lieben. Er teilt unsere Erfolge, leidet mit uns, wenn wir schwere Zeiten durchleben, und ist für uns da. Und ich hoffe, dass das noch lange so bleibt.
Lieber Pa – Dir als meinem treuesten Blogleser wünsche ich hier und heute alles Gute und Gottes Segen, und in Anlehnung an Star Trek (und als kleine Englischaufgabe!) schließe ich mit den Worten:
Live long and prosper!
Letzte Kommentare