Brasiliens SchandeDienstag Abend habe ich schweren Herzens darauf verzichtet, mir den Halbfinalkracher Brasilien-Deutschland anzusehen – ich bin zwar kein Fußballfanatiker, aber die WM hat mich doch etwas gepackt. Schließlich habe ich aus reiner Vernunft den Weg ins Bett angetreten. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, warf ich sofort einen Blick ins Internet. Und ich konnte kaum glauben, was da zu lesen war.

Brasilien – Deutschland 1:7.

Was für eine Niederlage und Enttäuschung für den Gastgeber Brasilien! Ich versuchte, mir vorzustellen, was in den Spielern und Fans wohl vorgegangen ist in diesem harten Minuten und Stunden. Dabei habe ich mich an ein anderes, ähnlich dramatisches WM-Spiel erinnert, das für Brasilien besser ausgegangen ist: der WM-Final 1994, in dem Brasilien zum vierten Mal Weltmeister wurde. Die tragischste Rolle in diesem Spiel gehörte dem Italiener Roberto Baggio.

1994 war Baggio auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In der vorherigen Saison hatte er mit Juventus Turin den Uefa-Pokal geholt; 1993 war er als Weltfußballer des Jahres geehrt worden. Nun stand er mit Italiens Nationalmannschaft im Finale der Weltmeisterschaft gegen Brasilien. Nach hart umkämpften 90 Minuten und weiteren 60 Minuten Verlängerung musste das Spiel im Elfmeterschießen entschieden werden. Bereits hatten je zwei Spieler der beiden Mannschaften ihre Bälle versenkt, als Baggios Teamkollege Massao seinen Penalty verschoss. Da der nachfolgende brasilianische Spieler das Tor machte, lag das Schicksal der italienischen Elf in den Füssen von Roberto Baggio.

Baggio hatte an dieser WM schon viele Male getroffen. Doch dieses Mal verließen in die Nerven oder auch nur das Glück. Er verzog seinen Schuss, und der Ball ging weit über das Tor hinweg. Brasilien war Weltmeister, und Roberto Baggio wurde von einem Moment zum anderen der meistgehasste Mann Italiens.

Wer sich eine Karriere als Sportler aussucht, ist naturgemäß ein Mensch mit einem starken Siegesdrang; ein Mensch, der besser sein will und der seine Identität und sein Selbstvertrauen auch aus seinem Erfolg schöpft. Was muss in Baggio vorgegangen sein? Wie hat er diese Schmach überstanden?

Und wie tun es die brasilianischen Spieler heute? Zumindest einer von ihnen weiß, dass seine Identität nicht vom Siegen abhängt und dass er sein Leben vertrauensvoll in andere Hände legen darf. Die Facebook-Seite „Glaubensimpulse“ hat ein paar Zitate von Spielern abgedruckt, die von ihrem Glauben Zeugnis geben. Dabei hat sich David Luiz Moreira Marinho so geäußert:

„Mein ganzes Leben gehört Gott.
Er hat meinen Lebensweg bereits vorgezeichnet, er kennt den Sinn.
Und das reicht.“

Auch unter deutschen Fußballern gibt es einige, die aus dem Glauben Kraft schöpfen. Der bekannteste dürfte Claudemir Jerônimo Barreto (Cacau) sein, der von 2009 bis 2012 der deutschen Nationalmannschaft angehörte. Er hat sich noch etwas deutlicher ausdrückt:

„Kein Mensch kommt als Christ zur Welt.
Man muss sich entscheiden, ob man mit Gott leben will oder nicht.“

Ich selbst konnte lange Zeit gar nicht nachvollziehen, wie man aus seinen Erfolgen seine Identität ableitet. Ich war zwar immer eine erfolgreiche Schülerin, ohne viel dafür zu tun, aber ich habe daraus nie mein Selbstvertrauen bezogen; ich suchte die Bestätigung woanders. Beruflich  hatte ich null Ehrgeiz oder Ziele.

Seit ich meine Leidenschaft für das Schreiben und damit meine Berufung gefunden habe, spüre ich erstmals einen Druck, Erfolg zu haben, wünsche mir Anerkennung oder verspüre Angst davor, nicht anzukommen. Umso dankbarer bin ich für die Zuversicht, dass meine Identität nicht davon abhängt, ob meine Bücher und Texte gelesen werden, ankommen oder nicht ankommen. Sonst müsste ich anfangen zu überlegen, ob meine Themen und meine Art zu schreiben marktfähig sind oder ob ich nicht lieber auf eine gerade angesagte Schiene aufspringen sollte. So aber bin ich frei, genau das zu schreiben, was mir auf dem Herzen brennt.

Dass die gestrige Niederlage bei den Brasilianern Wunden hinterlassen wird, ist klar. Vor Schmerz und Enttäuschung sind auch gläubige Menschen nicht gefeit, wie die Tränen von Luiz im Interview so berührend klarmachen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass bei ihm und den anderen, die auf diesen Felsen bauen, die Gewissheit tief verankert bleibt, dass man auch in einem Karrieretief bei Gott niemals seinen Wert verliert.

Und heute Abend halte ich es übrigens mit Holland und Wesley Sneijder, für den ich seit der EM 2008 ein wenig „fane“ und der bei „Glaubensimpulse“ auch mit einem Zitat verewigt ist:

„Mein Glaube gibt mir Kraft und nur Gott entscheidet, wo meine Zukunft liegt.“

Kennst Du das Dilemma „Identität aus Erfolg“? Hast Du Dir das Spiel angesehen und mitgelitten? Und für wen „fanst“ Du am Sonntag?