Kürzlich habe ich auf Facebook (schon wieder!) einen Satz gelesen, der mir in dem Moment zu hundertfünfzig Prozent aus dem Herzen gesprochen hat. Er ging so:
„Sei ein Ermutiger! Kritiker hat die Welt schon genug.“
In meinem aktuellen Jahresendspurt inklusive dem altbekannten und altverhassten Gefühl, nirgends ganz und sowieso nie allen genügen zu können, hätte ich das gern all jenen an den Kopf geworfen, die ständig nur das Haar in der Suppe sehen und aus Prinzip etwas zu bemängeln haben. Es hat dann aber nicht allzu lange gedauert, bis mir bewusst wurde, dass dieser Satz in seiner Einseitigkeit genauso gefährlich ist wie sein Gegenteil.
Ja, es ist wahr: Menschen, die überall nur die Fehler und Probleme sehen, bringen andere Menschen und Gemeinschaften oft nicht weiter, weil sie die Leute entmutigen und ihnen irgendwann niemand mehr zuhört. Aber auch Menschen, die nur das Gute sehen und Probleme ausblenden, helfen damit weder anderen noch einer Gemeinschaft. Unter solchen Voraussetzungen können Missstände brodeln und irgendwann explodieren.
Leider neigen die meisten von uns zur Einseitigkeit: Entweder haben wir einen so scharfen Blick auf alles, was nicht perfekt läuft, dass wir das Gute nicht sehen können oder wollen, oder wir sind zu wohlwollend oder zu ängstlich und trauen uns nicht zu sagen, dass etwas in die falsche Richtung geht. Beide haben wir Gaben, die anderen nützen, können aber gleichzeitig voneinander lernen. Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht, wie wir uns selbst etwas mehr „einmitten“ können, und das ist dabei herausgekommen:
An den Wohlwollenden
Wenn Du auftauchst, entspannen sich die Menschen. Sie spüren, dass sie angenommen sind, und Deine wertschätzenden und ermutigenden Worte geben ihnen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Du erweckst Vertrauen und schenkst den Menschen etwas Unvergleichliches: den Mut, ihre Masken fallen zu lassen.
Du darfst aber ruhig auch mal kritisch sein. Benenne, was Dir Bauchschmerzen macht. Denk daran, dass Du anderen mit Deiner Ehrlichkeit hilfst, und hab keine Angst, dass man Dich dann nicht mehr mag. Vielleicht triffst Du dabei auf Menschen, die sich gegen jede Kritik taub stellen und Dich spüren lassen, dass das nicht gewünscht ist, aber das könnte Deine Chance sein, die Dir zugedachte Rolle abzulegen und Dir eine authentischere Gemeinschaft zu suchen. Denn Menschen, die wissen, dass sie nie ausgelernt haben und die sich weiterentwickeln wollen, sind froh um ehrliches Feedback. Sie werden es Dir danken und Dich noch ernster nehmen, weil damit auch Dein Lob noch viel wertvoller wird.
An den Kritiker
Du hast eine einzigartige Sicht auf die Realität. Dir entgeht nichts, und Du hast einen siebten Sinn für alles, was noch besser laufen könnte. Außerdem scheust Du Dich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Gratulation zu Deinem Mut und Deiner Geradlinigkeit – sie sind so wichtig in dieser Welt!
Schade ist, dass Deine Worte nicht immer ankommen oder oft schon in einer ablehnenden Haltung entgegengenommen werden. Dass passiert, wenn Du vergisst, auch das Gute zu sehen und zu anerkennen. Denk daran, dass sich jeder Mensch nach Wertschätzung sehnt: Wenn Du Deiner Kritik ein positives Feedback vorausstellst und jemandem damit das Gefühl gibst, dass Du ihn als Mensch schätzt und mit seinen Fehlern annimmst, hat Deine Kritik weit bessere Chancen, auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Wir alle brauchen Menschen, die uns auf unserem Weg ermutigen, loben und anfeuern und solche, die uns darauf hinweisen, wenn etwas nicht, noch nicht oder nicht mehr gut ist. Und am wertvollsten sind Menschen, die beides können. Und der Schlüssel für beides ist Liebe und Wertschätzung.
Wenn ich jemanden liebe, ermutige ich ihn, freue mich an seinen Erfolgen und will, dass es ihm gut geht. Weil ich ihn liebe, will ich aber auch nicht, dass er in sein Verderben rennt. Darum nehme ich meinen Mut zusammen und sage ihm, was ich denke, auch wenn er es nicht gern hört.
Wenn ich mich mit einer Gemeinschaft identifiziere und sie liebe, ist mir wichtig, dass sie blüht und gedeiht. Ich freue mich an ihren Erfolgen und ermutige die Verantwortlichen, wenn etwas gut gelaufen ist. Wenn ich die Gemeinschaft liebe, macht es mir Sorgen, wenn sie sich in eine ungute Richtung entwickelt, und dann teile ich diese Sorgen den Verantwortlichen mit. Und wenn ich sie vorher habe spüren lassen, dass ich ihre Arbeit schätze und wahrnehme, werden sie meine Worte eher annehmen.
Lasst uns Menschen sein, die sich das Vertrauen anderer erwerben, indem sie wohlwollend und wertschätzend mit ihnen umgehen und darum auch dann angehört werden, wenn sie etwas Unangenehmes zu sagen haben. So helfen wir anderen Menschen und Gemeinschaften, das Beste aus sich herauszuholen.
Und lasst uns als Menschen ein Leben lang belehrbar und beeinflussbar bleiben und aus einem gesunden Selbstwertgefühl heraus andere auch dann anhören, wenn sie nicht unserer Meinung sind oder etwas zu sagen haben, das uns nicht gefällt. So lassen wir zu, dass andere das Beste aus uns herausholen.
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