Zum Erschtauguscht: Was macht den Schweizer aus?

national-day-1505223_1920Heut ist Erster August, des Schweizers Nationalfeiertag! Viele Städte führen offizielle Feiern durch, aber der moderne Eidgenoss gedenkt seines Landes gern mit dem massiven Ankauf von Raketen, Zuckerstöcken, Chlöpfern und Bengalischen Zündhölzern, die er dann frohlockend im Garten abfackelt. In der Nachbarschaft  dröhnt, kracht und funkelt es im Sekundentakt, bis jedes noch so beschauliche Quartier vor lauter Rauchwolken und Gestank wie die Kriegsgebiete wirkt, aus denen Menschen so  oft zu uns flüchten, um eine neue Heimat zu finden.

Das mit der neuen Heimat ist bekanntlich nicht immer einfach. Letzten Monat hat ein verunglücktes Einbürgerungsverfahren hohe Wellen geworfen. Der Einbürgerungsantrag einer jungen, gut integrierten Frau wurde abgewiesen, weil sie einige in den Augen der meisten Leute irrelevante Fragen nicht beantworten konnte. Muss ein künftiger Schweizer wissen, welches unsere Nationalsportarten sind? Wie das Lädeli im Dorf heisst?

Dieser Disput hat mich zur Frage angeregt, was denn einen Schweizer genau ausmacht. Ist es sein Stammbaum? Ist es der trockene Humor, die Reserviertheit, die Sein-Licht-Unter-Den-Scheffel-Stellen-Heit? Oder doch die Tatsache, dass er die Frage beantworten kann, ob er ein Coop- oder Migros-Kind war?

Als History Nerd suche ich meine Antworten gern in der Vergangenheit, und meine Gedanken schweifen kurz aufs Rütli – die legendäre Wiese über dem Vierwaldstättersee, auf der die ersten drei Eidgenossen 1291 ihren Schwur schwuren. Allerdings hat das, was 1291 als Eidgenossenschaft bezeichnet wurde, wenig mit unserem heutigen Staat zu tun. Die moderne Schweiz nahm ihren Anfang eher am 12. September 1848, als Volk und Kantone die neue Bundesverfassung annahmen, auf der auch unsere heutige Verfassung gründet. Ich habe mir deshalb die aktuelle Verfassungs-Präambel von 1999 (letzte Totalrevision) zu Gemüte geführt, um herauszufinden, was gemäss dieses Verfassung-Vorwortes den Schweizer ausmacht.

Die Präambel beginnt (für den Christen eine Freude, für andere ein überholtes Ärgernis) mit den Worten Im Namen Gottes des Allmächtigen, ein  Bezug, der für die Menschen des 19. Jahrhunderts selbstverständlich war. Mit den Worten Das Schweizervolk und die Kantone folgen die „Verfassungsgeber“. Hier klingen Demokratiegedanke und Föderalismus an, die unser Land seit jeher prägen. Und so geht es danach weiter:

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie,
Unabhängigkeit und Frieden
in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung
ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften
und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

geben sich folgende Verfassung.

In diesen paar Sätzen stecken Werte und Gedanken, die mir lieb und teuer sind. Die Präambel beginnt mit einem ökologischen Bekenntnis, abgeleitet aus der Schöpfungsgeschichte, in der Gott dem Menschen mit der Herrschaft auch die Verantwortung für die Erde überträgt. Sie spricht sich aus für Erneuerung nicht als Selbstzweck, sondern zur Stärkung der Werte Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden, und propagiert im selben Atemzug eine Haltung der Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt ausserhalb unserer Landesgrenzen. Sie bekennt sich zur sprachlichen, ethnologischen, konfessionellen und regionalen Vielfalt in der Schweiz, betont aber auch, dass es für das Leben der Vielfalt in Einheit gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung braucht. Sie betont das Bewusstsein für unsere Wurzeln und den Stolz auf das, was wir erreicht haben, und verbindet es mit der Erkenntnis, dass wir unser Land nicht besitzen, sondern für diejenigen bewahren, behüten und pflegen, die nach uns kommen. Als letztes fordert die Präambel uns auf, die Freiheit, die wir haben, zu nutzen, um das Land mitzugestalten, mit anderen Worten: die politischen Rechte, nach denen sich unsere Nachbarn seit 1848 die Finger lecken, nicht gering zu schätzen. Und ganz zuletzt ermahnt sie uns, dass sich die Stärke eines Volkes am Wohl seiner schwächsten Glieder messen lassen muss.

Wenn ich diese Grundsätze auf ihre Essenz reduziere, komme ich auf sieben Punkte, die verfassungsgemäss jeder Schweizer hoch halten müsste.  In diesem Sinne, hier und heute zum Nationalfeiertag:

Die Sieben Gebote für den wahren Schweizer

Dir ist die Erde anvertraut. Übernimm diese Verantwortung und handle danach.

Sei bereit, dein Land zu erneuern,
um Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden zu stärken.

Begegne der Welt ausserhalb deines Landes mit Solidarität und Offenheit.

Begrüsse die Vielfalt und begegne auch denen, die nicht sind wie Du,
mit Rücksichtnahme und Achtung.

Sei Dir der Errungenschaften Deiner Vorfahren bewusst
und bewahre sie für die nächste Generation.

Nimmt deine verfassungsmässigen Rechte wahr
und gehe wählen und abstimmen, um den Staat mitzugestalten.

Vergiss nicht, dass sich Deine Stärke daran messen muss,
wie es dem Schwächsten im Lande geht.
Tu, was in Deiner Macht steht, um sein Leben zu verbessern.

Mich machen diese „Gebote“ stolz; stolz auf meine Vorfahren, die die Lehren des Bürgerkrieges genutzt haben, um eine Verfassung und einen Staat zu bauen, in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Unser Land war nie perfekt und wird es nie sein. Es hat auch in der Schweiz Jahrzehnte gedauert, bis die Wunden und Gräben des Bürgerkrieges geschlossen waren und die Verlierer dieses Krieges als Gleichberechtigte in die Regierung einbezogen wurden. Aber mit der Verfassung wurde 1848 ein solides Fundament gelegt, aus dem die moderne Schweiz entstehen konnte. Aus einem Staat,  der von seinen Nachbarn bei seiner Gründung als Unruheherd und „grosse Kloake“ bezeichnet wurde, entwickelte sich ein Land, das andere um seine politischen Institutionen und seine Stabilität beneiden.

In diesem Sinne: Heil Dir, Helvetia!

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