Wer sein Christsein öffentlich und leidenschaftlich lebt, muss mit bestimmten Reaktionen rechnen. In Diskussionen wird man schnell auf all das hingewiesen, was Christen so auf dem Kerbholz haben, und sind die Verbrechen früherer Zeiten abgehandelt, geht es genüsslich weiter mit der Erwähnung derjenigen berühmten Mitchristen, die gerade aus unappetitlichenGründen die Schlagzeilen dominieren. Damit kann ich leben. Allerdings beschäftigt mich das zugrunde liegende Prinzip, wenn ich es auf die persönliche Ebene herunterbreche.
Von hundert Leuten liest einer die Bibel, und neunundneunzig lesen den Christen – so hat es ein Erweckungsprediger einmal ausgedrückt, und das spiegeln auch die obigen Erfahrungen. Was wir tun und lassen, wird von anderen registriert und dem Christentum zum Wohl oder Wehe angerechnet.
Was die Furcht vor Meinung und Urteil der Menschen betrifft, habe ich zum Glück festgestellt, dass ich mit fortschreitendem Alter immer unempfindlicher dafür werde. Dennoch beschäftigen mich meine tönernen Füße, und meistens genau dann, wenn ich gefordert bin, mich noch mehr für meinen Glauben zu exponieren. Dann höre ich die Stimme, die Du vielleicht auch schon gehört hast. „Wieso willst ausgerechnet DU mit Deinem [man setze die Schwäche oder das Fehlverhalten ein, das einem am meisten beschämt] anderen erzählen, wie Dein Glaube Dich verändert und befreit hat?“
Wie gehe ich damit um, dass mein Grad an Heiligkeit für andere über die Tauglichkeit des Christentums entscheidet, wo ich doch genau weiß, dass ich trotz aller Bemühungen nie genügen kann?
Mich ermutigt der Gedanke, dass Gott seit jeher normale, fehlbare Menschen für sein Reich eingesetzt hat, die keineswegs immer zur geistlichen Elite gehörten. Als David zum nächsten König bestimmt wurde, war er der Kleinste seiner Familie und hütete Schafe. Einige der Jünger Jesu waren Fischer und vorher sicher nie bei einem Rabbi in der Lehre gewesen. Matthäus war Zöllner und übte damit einen Beruf aus, der einen äußerst schlechten Leumund hatte.
Genauso wenig zeichneten sich die Erwählten durch Fehlerlosigkeit aus: David, Noah und Gideon (um nur drei zu nennen) wirkten Großes für Gott, ließen sich aber auch Ehebruch, Trunkenheit und Feigheit vor dem Feind zuschulden kommen. Und was erfahren wir über das Verhalten der Jünger in Neuen Testament? Hat ihre Erwählung durch Jesus sie so geadelt, dass sie jeden Test bestanden?
Auch sie vollbrachten Großes und scheiterten dennoch immer wieder an sich selbst. Petrus wagte sich zu Jesus aufs Wasser, verlor dann den Mut und ging unter. Er versprach großspurig, für seinen Herrn in den Tod zu gehen, um ihn dann wie alle anderen in der Stunde der Not zu verlassen und zu verleugnen. Die Donnersöhne Johannes und Jakobus stritten sich darum, wer im Reich Gottes neben Jesus sitzen dürfe, und der später berufene Paulus sah es vor seiner Bekehrung in Damaskus als seine Lebensaufgabe an, die Jünger Jesu zu verfolgen und zu vernichten. Er blieb ein streitbarer Geist, obwohl er die meisten Briefe des Neuen Testaments schrieb und trotz seiner Pharisäervergangenheit zu den Nichtjuden geschickt wurde.
Gott beruft nicht die Fähigen – er befähigt die, die er beruft. Und er beruft nicht nur die starken, abgeklärten spirituellen Lehrer in seinen Dienst, sondern mehrheitlich normale, bedürftige Menschen mit Schwächen, die sich von ihm gebrauchen lassen, daran reifen und deren Lebensfrüchte für sich und vor allem für ihn sprechen. Das befreit auch mich darin, für ihn zu wirken. Gott setzt mich für sich ein, obwohl ich nicht perfekt bin.
Dass ich nicht aus mir heraus vollkommen bin, macht mir zudem klar, dass ich Gott brauche, und lässt keinen Platz für übermäßigen Stolz auf meine eigene Leistung. Gleichzeitig wächst mein Bewusstsein dafür, dass ich nur angedockt an ihn in der Lage bin, meine Aufgabe zu erfüllen. Jesus sagt klar, dass wir Reben an seinem Weinstock sind und nur in Verbindung mit ihm tun können, wozu wir bestimmt sind, und lieben können, wie er geliebt hat. Und das ist es, was andere wahrnehmen.
Menschen spüren, ob wir sie als Trophäen in unserem Bekehrungspalmares sehen oder an ihnen als Menschen interessiert sind, ob wir Ruhm und Ansehen für uns anstreben oder unseren Gott groß machen wollen. Und Menschen werden von Menschen berührt – von Echtheit, von Veränderung, von der Liebe, die ihnen entgegengebracht wird. Unsere Aufgabe, Menschen von der Strahlkraft des Evangeliums zu überzeugen, gelingt am besten, wenn in uns das Resultat der erfahrenen Liebe Gottes durchschimmert – in einem befreiten, liebevollen Auftreten und im Bewusstsein, dass ich weiß, wem ich mein Leben und meine Veränderung verdanke. Nicht mir selbst oder irgendwelchen geistlichen Klimmzügen (auch wenn Wille zur Veränderung und Disziplin wichtig sind), sondern zuerst und vor allem Jesus.
Gott gebraucht uns und nimmt uns in seinen Dienst, wie wir sind: Auf dem Weg, entwicklungsfähig, heilungsbedürftig und mit Schwächen behaftet. Er geht mit uns und hilft uns, seinem Sohn, dem menschlichen Abbild seiner selbst, ähnlicher zu werden.
Mich ermutigt das, immer und überall dazu zu stehen, dass ich ein „Work in Progress“ bin. Ich mache Fehler, manchmal kleine, manchmal auch größere, aber aus jedem gehe ich als Mensch hervor, der etwas dazu gelernt hat. Ich werde mein Leben lang den Status „in Bearbeitung“ tragen, aber das ist in Ordnung. Denn ich lebe in der Hoffnung, dass ich mit jedem Tag, an dem ich mich seiner Führung unterstelle, meinem Herrn ähnlicher werde, und in der Gewissheit, dass ich am Tag meines Todes, endlich „vollendet“, in seine Herrlichkeit eingehe.
Wie geht es Dir mit Deinen Schwächen und Unzulänglichkeiten? Lebst Du gemäß der Devise „frisch, fromm, fröhlich, frei“, oder plagen Dich Gedanken, dass Du nicht genügst? Mach Dir bewusst, dass Deine Fehleistungen der Vergangenheit hinter Dir liegen und auch alles Zukünftige bereits vergeben ist. Das meint nicht „billige Gnade“ oder „machen, was immer ich will“, sondern ein befreites Leben im Bewusstsein, dass Jesus nicht für die in ihren Augen „Gesunden“ gekommen ist, sondern für die Menschen, die wissen, dass sie Gott brauchen.
Und er freut sich, dass Du ihn brauchst – zuallererst, damit Du jeden Tag mit dem Bewusstsein beginnen kannst, dass nichts und niemand Dich von der Liebe Gottes trennen kann.
[…] Ein Hoch auf tönerne Füße oder: Warum ich gern ein „Work in Progress“ bin […]