Im Herbst vor neun Jahren stand ich vor wichtigen Entscheidungen: Ich hatte die Möglichkeit, eine neue Arbeitsstelle anzutreten, wusste nicht, ob ich aus einem Verein austreten sollte und fragte mich allgemein, wohin mein Weg führte. Da ich solche Dinge am liebsten in Ruhe und mit mir allein ausmache, entschied ich mich für eine Self-Made-Retraite auf einer Alp.
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Am Freitag packte ich einen Koffer mit Freizeitklamotten, legte Bibel, Notizblock und Schreibzeug dazu, schulterte meine Gitarre und reiste mit dem Zug ins Berner Oberland. Kurz vor fünf erreichte ich die Talstation der Gondelbahn, die von Adelboden auf die Engstligenalp führt, und hob mit einer der letzten Gondeln ab.
Es war eine gespenstische Fahrt. Wie meistens um diese Tageszeit kroch der Nebel in Richtung Tal, und die Drahtseile der Gondel schienen in einem grauen Niemandsland zu verschwinden. Oben war es noch schlimmer: die Hochebene war dick in Watte gepackt, und nur der begrenzte Blick auf drei Meter Schotterweg zeigte mir, in welcher Richtung das Berghaus liegen musste. Ich zog den Koffer hinter mir her und kam schließlich heil im Hotel an.
Nach einem einfachen Abendessen beschloss ich, noch etwas spazieren zu gehen. Ich schritt in meiner winddichten Jacke über die Ebene und sah dabei wieder nichts außer ein paar Metern Boden vor meinen Füssen. Ab und zu machte ich eine Wegkreuzung aus und entschied mich aufs Geratewohl für eine Richtung, während ich mir zu merken versuchte, wie oft ich in etwa rechts und links abgebogen war.
Irgendwie gelangte ich so wieder ins Hotel zurück und machte mich daran, mich auf meine zwei Tage in der Stille vorzubereiten. Das war nötig, denn obwohl ich wusste, worum es mir dieses Wochenende ging, hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich das erreichen sollte. Meine Vorstellungen entsprachen der Witterung auf der Engstligenalp: dicker, weißer Nebel umhüllte alle klaren Konturen, und mittendrin tappte ich unsicher herum.
Ich setzte mich in meinem Zimmer an den einfachen Holztisch, holte Stift und Notizblock hervor, betrachtete die groben, karierten Stoffvorhänge am Fenster und ließ meine Gedanken wandern. Langsam formte sich eine Idee; ich notierte, was mir in den Sinn kam, ließ mich von der Inspiration leiten, strich zusammen, strukturierte. Am Ende hatte ich ein Wochenendprogramm, das alle Fragen behandelte, die mich beschäftigten.
Staunend blickte ich auf dieses Werk, das sich scheinbar aus dem Nichts geformt hatte. Ich wusste nicht, wie ich darauf gekommen war, aber ich war mir sicher, dass die Idee Hand und Fuß hatte. Und als ich am nächsten Morgen aufstand und die groben Vorhänge am Fenster zurückschob, sah ich, dass sich auch das Wetter angepasst hatte: ein strahlend blauer Himmel erhob sich über den grünen Hügeln und grauen Felswänden, die Sonne schien – die Welt war aus den Nebelschleiern wiederauferstanden.
Nach dem Frühstück schulterte ich meinen Rucksack, nahm die Gitarre unter den Arm und wanderte los. Ohne mich an den belustigten Blicken und Bemerkungen der Leute zu stören, suchte ich mir ein stilles, abgeschiedenes Plätzchen und begann mit meinem Programm, das ich „Licht in den Nebel“ nannte. An diesem Vormittag dachte ich über die Werte nach, die mir wichtig waren, und definierte die „Top Three“ meiner Gaben, und am Nachmittag legte ich diese Werte und Gaben wie ein Raster über meine Arbeit, meinen Dienst in der Kirche, meine Beziehungen und meine übrigen Freizeitaktivitäten, um herauszufinden, wo ich diese Werte leben und die Gaben pflegen und fördern konnte. Und wo nicht.
Am Sonntag definierte ich aus diesen Einsichten einige Entscheidungen. Ich beschloss, das Jobangebot anzunehmen und aus meinem Verein auszutreten. Dabei spürte ich deutlich, dass ich für die Entscheidung mit dem Verein momentan noch nicht bereit war. Ich gab mir Zeit bis Ende Jahr und vertraute darauf, dass ich bis dahin die nötige Kraft haben würde.
Wenn ich über dieses Weekend nachdenke, bin ich immer wieder erstaunt und begeistert, wie Gott unverhofft den grauen Nebel verdampfen lässt und einen Weg vor meine Füße legt. Das bestärkt mich darin, dass ich ihm vertrauen kann. Zu wissen, dass ich eine Entscheidung treffen musste, zu der ich noch gar nicht bereit war, war herausfordernd; die innere Spannung war schwer zu ertragen. Aber Gott arbeitete in diesen drei Monaten an meinem Inneren, bis ich Ende Jahr mit Überzeugung und einem ruhigen Herzen meine Entscheidung fällen, mitteilen und leben konnte.
Mit dem heutigen Palmsonntag beginnt die Karwoche. Sie findet ihren ersten Höhe- oder besser Tiefpunkt am Karfreitag, dem „Darkest Day“, dem ultimativen Ausdruck des Nirgendwo: Jesu Tod am Kreuz. Ihm folgt Ostersamstag, und danach dürfen wir die Auferstehung feiern. Ich freue mich dieses Jahr besonders darauf, weil ich ab und an Nebelerfahrungen mache und mehr als sonst auf Gott vertrauen muss. Doch darin liegt zugleich ein Segen – der Segen der Nähe zu Gott, die nie grösser ist als dann, wenn wir akzeptieren, dass wir aus uns heraus nicht viel zustande bringen und uns mit offenem, bereitem Herzen auf ihn ausrichten.
Eines der Dinge, die ich in letzter Zeit zustande gebracht habe, ist ein Gedicht, das ich Euch gern in diese Karwoche mitgebe. Vor allem der letzte Satz hat es mir angetan, und ich will ihn mir für alle weiteren Dürre-, Nebel- oder Notzeiten in mein Herz schreiben.
Gott vertrauen
So einfach, wenn der Weg gerade, die Sicht so gut, die Sonne mild
Doch trügerisch
Denn nach und nach vertrau ich mir – es geht ja gut.
Gott vertrauen
Wenn Nebel mir die Sicht verschleiert
Der Weg sich krümmt und Falten wirft, es waagrecht schneit
So hart und schmerzlich
und doch so schön.
Denn wenn ich keinen Schimmer habe, leuchtet Er.
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