„Die Fähigkeit, das Leid um des Guten, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit willen anzunehmen, ist unverzichtbar und bestimmt das Maß der Menschlichkeit. Wenn mein Wohlbefinden, mein Unverletztbleiben wichtiger ist als Wahrheit und Gerechtigkeit, dann gilt die Herrschaft des Stärkeren; dann dominiert die Gewalt und die Lüge. Die Wahrheit, die Gerechtigkeit muss über meiner Bequemlichkeit und meiner physischen Unversehrtheit stehen, sonst wird mein Leben selber zur Lüge.“
Kürzlich bin ich beim Lesen eines Posts über dieses Zitat gestolpert. Im Original ist es noch etwas umständlicher formuliert; es stammt von einem sehr belesenen und intellektuell brillanten, aber eher trockenen Gelehrten. Die Zeilen sind ein Ausschnitt aus §38 der Enzyklika „Spe salvi“ von Benedikt XVI., und sie haben mich zum Nachdenken gebracht.
Im ersten Augenblick habe ich nicht gesehen, was das alles mit mir tun hat. Wann muss ich in unseren verwöhnten Breitengraden schon um meine physische Unversehrtheit fürchten, wenn ich für Gerechtigkeit einstehe? Wann muss ich Leiden in Kauf nehmen? Beim näheren Betrachten ist mir aber aufgegangen, dass sich auch abstrakte Begriffe wie Unversehrtheit, Wohlbefinden, Wahrheit und Gerechtigkeit auf mein Alltagsleben herunterbrechen lassen.
Ich habe auch schon Situationen erlebt, in denen ich mich entscheiden musste, ob ich mein eigenes Wohl oder einen ethischen Wert höher gewichten will, und leider handle ich nicht immer so couragiert, wie ich es mir wünschen würde. Wenn ich realisiere, dass eine konsequente Handlung mich in eine unbequeme Lage bringen könnte, finde ich manchmal rasch einen Grund dafür, gerade jetzt nichts zu tun. Ich bringe Ausreden wie „Es würde ja doch nichts ändern“ oder verschiebe es auf später à la „Vielleicht kann man das mal in einem ruhigen Augenblick ansprechen“ – und mache nichts.
Das liegt zum einen an meiner leider noch nicht ganz überwundenen Gefallsucht und Konfliktangst – ein Teil von mir möchte immer noch, dass alle mit mir zufrieden sind und krümmt sich innerlich beim Gedanken, dass jemand meine Aktionen oder Worte missbilligt. Zum anderen ist mir klar, dass es in den wenigsten Fällen eine absolute Wahrheit gibt und dass mein Eindruck falsch sein kann. Was mich stört, ist für andere völlig in Ordnung. Und was ich normal finde, kann jemand anderen in den Wahnsinn treiben.
Ob ich es doch wage, hängt oft davon ab, was für Reaktionen ich erwarten kann. Wenn ich spüre, dass mein Feedback willkommen ist, werde ich es eher wagen, meine Meinung zu sagen. Wenn ich hingegen auf einen vorsichtigen Versuch hin eine abwehrende Reaktion erhalte, gebe ich erst einmal Ruhe, und je länger die unbefriedigende Situation anhält, desto eher laufe ich Gefahr, zu resignieren und mich zurückzuziehen. Auch wenn es nutzlos ist, bedauere ich heute Situationen, in denen ich zu lange gezögert habe, weil ich Angst hatte, jemanden zu verletzen, mich unbeliebt zu machen oder eine Beziehung aufs Spiel zu setzen. Genützt hat mein Zögern nämlich auch in dieser Hinsicht nichts.
Was nicht ist, kann noch werden, und auch wenn die Menschheit aus der Geschichte wenig bis nichts lernt, will ich mich damit persönlich nicht zufrieden geben. Ich will mein Wohlbefinden, in diesem Fall das Bad in konfliktfreien Gewässern und ohne Gegenwind, nicht höher werten als das Einstehen für das, was ich richtig und gerecht finde, auch wenn ich weiß, dass ich selbst nicht immer den absoluten Durchblick habe. Am Ende bleibt uns nichts anderes, als nach Abwägung verschiedener Sichtweisen zu entscheiden, wie wir eine Sache beurteilen, und danach zu handeln.
Wenn wir das tun, riskieren wir etwas. Vielleicht entstehen erst einmal negative Gefühle, vielleicht werden wir ausgelacht, angeklagt oder abseits gestellt. Aber wir stählen unsere Muskeln der Zivilcourage, denn unsere kleinen Entscheidungen im Alltag formen uns für größere Herausforderungen und bestimmen mit, wie wir uns verhalten werden, wenn einmal eine schwierigere Aufgabe vor uns liegt.
Wie wollen wir in unserem friedlichen Land sonst lernen, für etwas einzustehen? Wo wollen wir üben, aus unserer Komfortzone herauszukommen und böse Blicke und Verurteilungen auszuhalten, wenn nicht in bescheidenen Alltagssituationen, wo es vermeintlich „nicht so wichtig ist“?
Bei allem Wissen darum, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und das Gute Begriffe sind, die von allen Seiten in Anspruch genommen werden und sich in einer Konfliktsituation nicht immer klar zuweisen lassen, will ich mich nicht hinter dieser Relativierung verstecken. Ich will darauf vertrauen, dass mich mein Urteilsvermögen nicht täuscht, und neben den Fakten weiterhin meinem im Rückblick recht treffsicheren Bauchgefühl vertrauen, das mir sagt, wenn etwas faul ist.
Inmitten dieser Grübeleien ist mir das Sprichwort in den Sinn gekommen, das unter anderem den Chinesen, dem Talmud und Ghandi zugeschrieben wird (soviel zu verschiedenen Sichtweisen):
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Ich will die Gedanken, die ich hier in Worten ausgedrückt habe, in Handlungen umsetzen. Dann können sie zu Gewohnheiten werden und meinen Charakter formen, der mein Schicksal mitbestimmt.
Was bedeutet für Dich „Zivilcourage“? Fällt es Dir leicht, für etwas einzustehen? Wo findest Du es am schwierigsten: in der Öffentlichkeit, Zuhause oder unter Freunden? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!