In den letzten Wochen hat mich ein vertrautes Gefühl geplagt. Heute möchte ich ihm definitiv den Garaus machen, weil ich glaube, dass es mich lähmt und torpediert. Und wer weiß – vielleicht sitzt irgendwo jemand, der dieses schräge Gefühl kennt und aus meinen Worten etwas mitnehmen kann.
Die ersten vierzig Jahre meines Lebens waren eine Suche nach mir selbst und meinem Platz im Leben. In meinen Dreißigern bin ich so oft umgezogen, dass meine Anschriften nicht in das „Wo-haben-Sie-in-den-letzten-fünf Jahren-gewohnt“-Feld der Sicherheitsprüfung meines damaligen Arbeitgebers passten. Ich begann und beendete Beziehungen, wurde geliebt und verlassen, suchte Sinn und Halt.
Dann begannen sich die Dinge zu beruhigen. Mit 33 fand ich meinen Glauben, mit 37 meinen Mann, mit 39 mein neues Zuhause in der alten Heimat. Mit 40 konnte ich mich von einem persönlichen „Stachel im Fleisch“ befreien, und mit 41 fand ich meine Berufung.
Heute bin ich so glücklich wie noch nie. Ich setze voller Eifer um, was ich als meinen „Auftrag“ ansehe, und genieße mein Leben.
Eigentlich. Wenn da nicht diese Zerrissenheit wäre. Dieses Gefühl des schlechten Gewissens, das anzunehmen, was ich habe, und zu dem zu stehen, was ich bin.
Man muss wohl von besonderer Art sein, wenn man sich für sein Glück schuldig fühlt. Trotzdem empfinde ich oft so, und die national- und geopolitische Lage bietet unzählige Möglichkeiten, mir das Gute, das ich habe, mit innerer Kritik madig zu machen.
Mein Mann und ich leben in einem großen Haus. In unserem geräumigen Musikzimmer kann ich in Ruhe an meinen Texten und meiner Musik arbeiten. Aber ist es nicht dekadent, dass wir zu zweit so viel Platz einnehmen? Was ist mit unserem ökologischen Fußabdruck? Müssten wir nicht anstandshalber das Haus mit Menschen und Aktivitäten füllen?
Außerdem haben wir keine Kinder. Wir haben spät geheiratet, es hat sich nicht ergeben. Jetzt stehen wir in den Mittvierzigern, und das Thema ist durch. Wir leben gern so. Ist das nicht egoistisch?
Weiter arbeite ich zwar auswärts, aber nur halbtags. Bin ich deswegen nicht faul oder zumindest saumäßig verwöhnt, weil wir es nicht nötig haben, beide voll zu arbeiten? Und wenn wir so gut gestellt sind – tun wir dann genug, um diesen Wohlstand zu rechtfertigen?
Irgendwo tief drin glaubt ein Teil von mir, dass ich das alles nicht verdient habe und nicht genießen darf. Dieser Teil meiner Persönlichkeit hat lieber weniger als andere, weil er lieber bedauert oder belächelt als beneidet wird. Er scheut sich, etwas für sich in Anspruch zu nehmen, und hat lieber nichts als etwas, das jemand anderes auch wollen könnte.
Unsere Schweizer „Champignon-Mentalität“ unterstützt dieses Gefühl noch. Wir wachsen mit der Lehre auf, dass man den Kopf besser nicht zu weit herausstreckt, weil er einem sonst abgeschnitten wird. Wenn ich mich auf meine Vision ausrichte, kann ich nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Missgunst und Neid erregen. Lieber halte ich den Ball flach, stelle mein Licht unter den Scheffel und mache mich klein.
Diese Einstellung kann edel, gut und selbstlos wirken und einem als Bescheidenheit angerechnet werden, aber in Wahrheit ist es ein verletzter, verformter und verdrehter Teil von mir, der mich daran hindert, befreit und zielgerichtet mein Leben zu leben.
Wir alle sind einzigartig. Dort, wo wir unsere Talente haben und ein Segen für andere sein können, stechen wir heraus und werden sichtbar, und so soll es sein. Wenn wir aus Angst vor dieser Sichtbarkeit oder ihren Folgen die Köpfe einzuziehen, verstecken wir das, was uns ausmacht und wofür wir geschaffen wurden.
Wenn ich meiner Berufung gerecht werden will, muss ich das, was ich habe und wie ich lebe, annehmen und selbstbewusst beanspruchen. Ich muss aufhören, mich klein zu machen und meine Lebenssituation zu hinterfragen.
Beim Nachdenken über diese Gefühle der Angst und Zerrissenheit hörte ich plötzlich eine leise Stimme in meinem Herzen. Sie sagte mir, ich solle meine Hand auf alles legen, was mein Leben ausmacht, und ein einziges Wort aussprechen.
MEINS.
Ich sträubte mich.
Sehr.
„Meins“ klingt nach „Sofort-alles-haben-will“-Gesellschaft, nach „Ich-komme-zuerst-uns-dann-ganz-lange-niemand“. Heißt es nicht, wir sollen uns selbst verleugnen? Kann ich nicht einfach „Oh Herr, ich will nichts, von dem Du nicht willst, dass ich es habe“ sagen und mich ergeben zurücklehnen? Das liegt mir so viel besser!
Aber Gott ließ nicht locker. Und falls Du manchmal auch so verdrehte Gedanken hast, sagt er das Folgende auch zu Dir.
„Nimm es in Besitz. Beanspruche es. Leg Deine Hand auf alles:
Deine Berufung, Deine Lebensumstände.
Und dann sag es. Sag MEINS.“
„Aber ich habe so viel – ist das gerecht?
Mache ich genug, und mache ich das Richtige?“
„Glaub mir, Du machst genug.
Und was das Richtige angeht: Wir wissen beide, dass Dich bestimmte Aktionen innert Kürze in den Wahnsinn treiben und Dir jede Energie für Deine Aufgaben rauben würden. Dein Lebensstil bietet ideale Voraussetzungen, um das zu tun, was Du tun musst. Bist Du noch nie auf den Gedanken gekommen, dass ich das so WILL?“
„Aber mein Leben gehört Dir, und alles, was Du mir gegeben hast, auch!“
„Natürlich ist es am Ende meins, aber es ist auch DEINS.
Ich habe es Dir geschenkt, und NUR DIR.
Ich will, dass Du es voll auskostest und damit arbeitest.
Natürlich sollst Du es weiterschenken,
aber ich übergebe DIR die Verantwortung dafür.
Niemand anderes hat Anspruch darauf,
und niemand anderes hat darüber zu bestimmen,
was Du damit machst und wie Du es machst.
Es ist DEINS.
Also los. Sag es.“
„Na gut…wenn Du willst…“
Zögernd streckte ich meine Hand aus.
„Meins.“
„Ich habe nichts gehört.“
Ich räusperte mich.
„MEINS.“
„Ist das alles? Wo bleibt Deine Begeisterung?“
„Also gut!“
Dieses Mal holte ich die Luft aus dem Zwerchfell, und dann schmetterte ich es heraus, dass es über den Bucheggberg bis nach Bern und über die Jurahügel bis nach Basel rollte.
„Meins. MEINS! MEEEEEEINS!“
Meine Füße begannen zu zucken, und ehe ich wusste, was mir geschah, tanzte ich ausgelassen herum. Ich strich mit der Hand liebevoll über all das Schöne und Kostbare, während mir Tränen über die Wangen strömten und ich nicht aufhören konnte zu lächeln.
Auch Gott lächelte.
„Freut mich, dass es Dir gefällt. Viel Spaß damit!“
„Den habe ich!“
Den habe ich. Tatsächlich.
Ich liebe mein Leben, ich umarme es, ich freue mich daran, und ich bin dankbar.
Und jetzt höre ich auf zu schwafeln und tue endlich, was ich tun muss.
Scheust Du Dich auch manchmal, „Meins“ zu sagen? Oder fragst Du Dich gerade, was für abartige Probleme manche Leute sich konstruieren? In jedem Fall freue ich mich auf Deinen Kommentar!
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