Introvert 6Letzten Sonntag habe ich mich mit einem Mitglied unserer Gemeinde über die Ferien unterhalten. Meine fangen bald an, und ich werde sie daheim verbringen. Auf die Frage, ob das nicht etwas hektisch sei, weil viel Besuch hereinschneien könnte, antwortete ich, dass unsere Freunde genau wüssten, dass wir überfallartige Besuche nicht so schätzten.

 

Daraufhin meinte sie überrascht, sie hätte mich als aufgeschlossen und kontaktfreudig eingeschätzt. In den Worten von Bill Murray in „Und täglich grüsst das Murmeltier“: Bin ich. Bin ich. Aber ich bin auch ein introvertierter Mensch.

Amerika, das Land der exzessiven Extrovertiertheit, fängt gerade an, diese Eigenschaft nicht mehr als zu korrigierende Persönlichkeitsstörung anzusehen, und nach der Lektüre zahlreicher Beiträge zu diesem Thema ist mir noch klarer geworden, was den introvertierten Menschen ausmacht. Im Sinne des besseren Verständnisses lasse ich Euch heute an einigen Hauptmerkmalen unserer Spezies teilhaben. Es sind nämlich nicht immer die, an die man denken würde.

Umgepolter Energiefluss

Unter Menschen zu sein, uns zu unterhalten und Beziehung zu pflegen kostet uns Energie. Das heißt nicht, dass es uns keine Freude macht, aber es leert unsere Speicher. Früher oder später müssen wir uns zurückziehen können, um dort aufzutanken, wo es uns möglich ist: im stillen Kämmerlein. Ich liebe Abende allein zuhause, und wenn mein Mann einmal im Jahr mit seinen besten Freunden in ein Männerwochenende fährt, kenne ich nichts Schöneres, als drei Tage für mich zu haben. Ich stehe auf, schreibe, singe lese, gehe spazieren, sehe fern und esse was, wann immer mir danach ist.  Manchmal geht das Wochenende vorbei, ohne dass ich mit einer Menschenseele gesprochen habe, und das füllt meine Batterien wie nichts anderes.

Introvertiert heißt nicht scheu

Ich habe keine Probleme, vor anderen zu sprechen – in der Gemeinde leite ich Lobpreis und mache ab und zu die Moderation im Gottesdienst. An der Launchparty meines CD-Buchs habe ich gesungen, gelesen und moderiert, ohne dass es mich verrückt gemacht hätte. Ich bin nicht scheu, wenn ich auch in neuer Gesellschaft erst zurückhaltend bin. Natürlich gibt es scheue Introvertierte, aber die Schüchternheit ist kein zwingendes Attribut. Und die Gleichsetzung der Begriffe hat zur Folge, dass Menschen wie ich falsch eingeschätzt werden.

Feine Antennen und eine gute Beobachtungsgabe

Introvertierte sind gute Beobachter; viele Schriftsteller gehören zu unserer Sorte. Sie nehmen Details wahr, die anderen entgehen, und können gut in anderen Menschen lesen. Darüber hinaus haben sie oft ein feines Gespür für Stimmungen, Spannungen und Dinge, die unter der Oberfläche geschehen.

Wohl und Wehe des (christlichen) Introvertierten

Die falschen Vorstellungen über das Wesen der Introvertieren führen dazu, dass man uns Dinge vorwirft, für die wir nichts können. Wenn wir uns in Gesellschaft kurz zurückziehen, gelten wir als Partybremsen oder Unsoziale. Wenn wir keine weiteren Termine wollen, gelten wir als Egoisten. Gerade als Christ fühle ich mich mit meiner „Veranlagung“ manchmal fehl am Platz, weil die unbegrenzte Gastfreundschaft so auf den Schild gehoben wird. Es gehört sich, ein „offenes Haus“ zu haben, während Christsein und „My home is my castle“ irgendwie nicht zusammen zu gehen scheint. Hier möchte ich für ein erweitertes Bild der Gastfreundschaft werben, denn auch wir Introvertierte können gastfreundlich sein. Wenn ich Leute einlade, habe ich Freude daran, sie zu bewirten, auf sie einzugehen und mit ihnen einen schönen Abend zu verbringen. Aber ich widme mich ihnen gern im kleineren Kreis und so, dass ich es planen und mich darauf einstellen kann.

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Seid ihr nun völlig überwältigt von diesen komplizierten Typen, die sich Introvertierte nennen? Nur die Ruhe – so schwierig ist das Zusammenleben mit uns nicht. Die folgenden heißen Tipps werden Euch helfen, die Intros in Eurer Umgebung artgerecht zu behandeln:

Dosiert Überraschungen im terminlichen Bereich

Auch wir Introvertierten (jedenfalls die halben Chaoten, wie ich einer bin) können damit umgehen, wenn sich Pläne ändern,  und können uns auf etwas Neues einstellen. Aber wir ziehen es vor,  soziale Kontakte zu planen. Wenn ich mit jemandem ein Treffen vereinbare, stelle ich mich darauf ein, bin dann voll präsent und genieße es. Anrufe um fünf für einen Feierabenddrink um sechs sind dagegen nicht so mein Fall, und spontane Besuche überfordern mich. Wer in der Gegend ist und kurz vorbeikommen will, möge zumindest vorher kurz anrufen (oder noch lieber eine SMS schicken, damit ich mir in Ruhe überlegen kann, wie es mir geht und ob ich Besuch will).

Nehmt unsere Art nicht persönlich

Die vielen Eindrücke, die wir in Gesellschaft aufnehmen, schwächen unsere Schutzschilde. Wenn wir zu lange zu viele Menschen um uns haben und uns nicht zurückziehen können, fühlen wir uns wie das Raumschiff Enterprise mit 10 Prozent Energie auf den Schilden. Irgendwann bricht der Schild, und wir fühlen uns nackt und verwundbar – Stimmungen, Eindrücke und Emotionen der Umgebung prasseln ungehindert auf uns herein. Dann versuchen wir abzuschalten und die Menschen innerlich auf Distanz zu halten. Wir reden und beteiligen uns äußerlich, aber es kostet uns immer mehr Anstrengung. Dadurch wirken wir manchmal unfreundlich, abweisend oder sogar arrogant. Wenn ihr so einen Eindruck von uns habt – fragt uns einfach, ob wir einen Overflow haben. Wir werden für das Verständnis dankbar sein!

Urteilt uns nicht als Egoisten ab

Wir wollen nicht einfach unser egoistisches kleines Leben führen – wir können schlicht nicht funktionieren, wenn wir nicht genug Zeit für uns selbst haben, und mit leeren Batterien bringen wir auch anderen nichts. Unser Bedürfnis nach dem Alleinsein ist existenziell, und wenn uns jemand gar kein Verständnis entgegenbringt und durchblicken lässt, dass er uns für eigennützig hält, verletzt uns das.

Fordert uns heraus – aber liebevoll

Ich gebe es zu: wenn man den Introvertierten einfach in Ruhe lässt, besteht die Gefahr, dass er nur für unabdingbare Verpflichtungen aus seiner Höhle herauskriecht. Wir wissen das und sind dankbar, wenn andere ab und zu an die Höhlentür klopfen. Aber tut es sachte und vorsichtig. Überrumpelt und manipuliert uns nicht: das nehmen wir sehr übel, und es wird Eure Chancen, beim nächsten Mal unser Wohlwollen auf Eurer Seite zu haben, empfindlich verkleinern.

Der letzte Appell

Glaubt uns, dass wir nicht anders können und dass dies kein Charakterfehler, sondern eine Charaktereigenschaft ist. Akzeptiert unsere Andersartigkeit. Erzählt uns nicht ständig, wie toll ihr Leute findet, die ein offenes Haus haben und so wunderbar spontan sind. Das nehmen WIR nämlich persönlich. Versucht, unsere Introvertiertheit als etwas Positives zu sehen: wir haben in Gesellschaft die Gabe, uns voll und ganz auf den anderen einlassen. Wir müssen nicht im Mittelpunkt stehen und hören gern zu. Aber dafür müssen wir genug Ressourcen haben. Lasst uns diesen Raum, ohne uns anzuklagen oder als unsozial abzuschreiben. Es lohnt sich auch für Euch.

Und wie geht es Euch anderen?! Aufruf zur Völkerverständigung!

Dieses Post hat mir gezeigt, wie fremd wir einander sein können und wie wenig wir manchmal verstehen, was im anderen vorgeht. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn das Alleinsein einen auslaugt und  man im Zusammensein mit anderen Energie tankt. Nachdem ich also meine Befindlichkeit so ausführlich ausgebreitet habe, lade ich Euch herzlich ein, dasselbe zu tun:

Wie ist das Leben als Extrovertierter? Worunter leidet Ihr?
Was müssen wir Intros wissen, um besser auf Euch einzugehen?
Was macht Ihr, wenn Ihr auftanken wollt und niemanden habt, der etwas mit Euch unternimmt?
Tanken Extrovertierte bei allen Menschen auf, oder kommt es darauf an, wer es ist – und ist das Motto „Je mehr, desto besser?“
Und Ihr Intros da draußen: habe ich es getroffen? Oder erlebt Ihr das Introvertiertsein ganz anders? Ich freue mich auf Euren Kommentar!