Wann „ist man wer“? Eine vornehme Bernerin und die Frage aller Fragen

Jemand sein 2Die Schweiz ist seit Jahrhunderten eine Republik, doch auch bei uns regierten einmal Adelsgeschlechter. Sie verfügten über Mensch und Vieh und stritten miteinander (und mit der Kirche) um Besitz und Herrschaft. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte man in Bern einem Relikt dieser Zeit begegnen – denn für „Madame de Meuron“ hatte die „alte Zeit“ nie aufgehört.

Unzählige Geschichten ranken sich um dieses Berner Original, das mit vollem Namen Louise Elisabeth de Meuron-von Tscharner hiess. Wer ihr vorgestellt wurde, musste die legendäre Frage beantworten, ob er  „jemand sei“ oder ob er Lohn beziehe. Im Original: „Syt der öpper oder nämet der Lohn?“  Als sie als Ehrengast einer Truppeninspektion beiwohnte und ihr – beginnend beim ranghöchsten Offizier –  die Kader des Regiments vorgestellt wurden, schritt Madame de Meuron unbeeindruckt an Obersten, Oberstleutnants und Majoren vorbei, bis die Reihe an Korporal de Riedmatten (oder ähnlich) war. Da hob die adlige Dame das Kinn, blickte dem Unteroffizier ins Gesicht und meinte trocken: „Enfin quelqu’un!“ (Endlich jemand!).

Heute müssen wir  kein „von“ im Namen führen, um jemand zu sein. Aber hat sich wirklich so viel verändert?

In der SMS-Kolumne meiner Regionalzeitung schrieb letzte Woche ein Mann voller Freude, dass ihn eine Firma nach der Probezeit fest angestellt hatte, obwohl er schon 61 Jahre alt sei. Am Folgetag enthielt die Spalte zwei Antworten von Menschen, die sich mit dem Mann freuten und ihm gratulierten. Eine der Antworten beschäftigt mich noch heute.

 „Lieber xxx, ich kenne Dich zwar nicht.
Aber ich kenne das Gefühl, noch einmal jemand sein zu dürfen.“

Wir brauchen heute kein „de“ oder „von“, um jemand zu sein. Was wir brauchen, ist offenbar genau das, was für Madame de Meuron der schlagende Beweis dafür war, ein Niemand zu sein: einen Lohnausweis und damit den Nachweis, dass wir der Gesellschaft einen Nutzen bringen.

Man verstehe mich nicht falsch: in einer Zeit, in der gewisse Menschen unsere Solidargesellschaft und ihre Systeme zu ihrem alleinigen Vorteil ausnutzen, ist es lobenswert und unabdingbar für das Funktionieren dieser Gesellschaft, dass der einzelne sich einbringt und etwas leisten will. Als ich nach einem (zu) langen Studium zum ersten Mal einen Vollzeitjob hatte und meinen ersten Lohnausweis erhielt, empfand ich Freude und Stolz. Nicht so sehr, weil ich endlich Geld verdiente, sondern weil ich mit meiner Arbeit einen Beitrag an etwas Größeres leistete, weil das, was ich tat, gebraucht wurde.

In diesem Zusammenhang verstehe ich auch den obigen Satz nur zu gut. Für mich spricht daraus aber auch eine tiefe Not.

Unser Wirtschaftssystem reduziert den Menschen mehr und mehr auf seine Rolle als Konsument und Beitragsleister zum Bruttosozialprodukt. Die Folge davon ist, dass unser Wert über unsere Leistung und Nützlichkeit für die Gesellschaft und für das System definiert wird.

Susan Kaye Quinn, eine amerikanische Indie-Autorin, hat eine Buchreihe namens „Debt Collector“ (Schuldeneintreiber) herausgegeben. In ihrer Zukunftswelt werden Menschen, deren verbleibende Lebensjahre weniger wert sind,  als sie der Gesellschaft schulden, „ausgetauscht“: die verbleibende Lebensenergie wird aus ihnen herausgesaugt und auf Menschen übertragen, die es „verdienen“, weil sie besonders brillant oder talentiert sind und der Gesellschaft somit mehr einbringen. Eine gruselige und abstruse Vorstellung – aber manchmal fürchte ich, dass wir nicht weit davon entfernt sind.

Bei vielen politischen und gesellschaftlichen Fragen  geht es in irgendeiner Weise auch darum, was der einzelne der Leistungsgesellschaft „nützt“ – ein Beispiel ist die Medizin, wo das Dilemma deutlich wird.  Bis zu welchem Alter „lohnt“ es sich noch, jemandem ein neues Gelenk einzusetzen? Einen größeren Eingriff zu machen? Besteht nicht die Gefahr, dass irgendwann nur noch die Nützlichkeit eines Lebens über seinen Fortbestand entscheidet?

Das Gesundheitswesen mit seinen explodierenden Kosten ist ein komplexer Bereich, und ich maße mir nicht an, eine Lösung zu haben. Für mich sind diese realpolitischen Fragen der Spiegel eines im Ansatz lebensfeindlichen Wertesystems, das sich erfolgreich in uns eingenistet hat.

Ich kann dieses System nicht ändern, aber ich kann ihm ein besseres gegenüberstellen. Es ist viel älter, und es wird noch Bestand haben, wenn sich niemand mehr an das aktuelle erinnert.

In diesem System wird der Preis des Produkts allein durch den Hersteller definiert – und der Hersteller des Produkts „Mensch“ hatte ganz bestimmte Vorstellungen über diesen Wert. Er hat zudem dafür gesorgt, dass diese Vorstellung auch uns zugänglich ist. König David, einst ein Hirtensohn und der kleinste unter seinen Brüdern, hat seine Gedanken über Gott und sich selbst in einem Psalm festgehalten, und diese Gedanken gelten für uns alle.

 „Du hast mich geschaffen – meinen Körper und meine Seele,
im Leib meiner Mutter hast Du mich gebildet.
Herr, ich danke Dir dafür,
dass Du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast.
Großartig ist alles, was Du geschaffen hast – das erkenne ich!

Schon als ich im Verborgenen Gestalt annahm,
unsichtbar noch, kunstvoll gebildet im Leib meiner Mutter,
da war ich Dir dennoch nicht verborgen.
Als ich gerade erst entstand, hast Du mich schon gesehen.
Alle Tage meines Lebens hast Du in Dein Buch geschrieben –
noch bevor einer von ihnen begann!“

Psalm 139,13-16 / Hoffnung für alle

Es kann gerade in unserer leistungsorientierten Gesellschaft herausfordernd sein, diese Sätze für sich in Anspruch zu nehmen. Wir sind selten mit uns zufrieden und definieren uns zusätzlich über die Ansprüche, die diese Gesellschaft an uns stellt. Doch ich kenne Menschen, die es trotz schweren gesundheitlichen Einschränkungen geschafft haben, die Hoffnung auf Heilung nicht aufzugeben und gleichzeitig gewiss zu sein, dass sie unantastbar wertvoll sind – hier und heute und mit allem, was dazu gehört.

Diese Kraft beschämt und ermutigt mich, und ich will mir diese Einstellung noch mehr zu eigen machen. Egal, was mir heute gelingt oder misslingt, egal, wie ich bewertet und beurteilt werde, und egal, ob ich etwas vorweisen kann, das der Gesellschaft nützt:

Meinen Wert bestimmt der Hersteller.
Und der war genial und hat keinen Ausschuss produziert.

4 Comments

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  1. Deine Gedanken finde ich spannend, mit dem Schluss stimme ich jedoch nicht überein. Du sagst, Gott hätte keinen Ausschuss produziert, in der Bibel steht aber ganz was anderes. Kaum hatte Gott den Menschen erschaffen, musste er auch schon bei jeder Gelegenheit korrigierend eingreifen. Dabei ging er auch gar nicht zimperlich vor, bei Noah kam ihm seine Schöpfung so verkorkst vor, dass fast alles dran glauben musste. Einzelpersonen, ganze Städte und die Tiere wurden zum Teil wegen läppischer Vergehen oder auch völlig unschuldig vernichtet. Waren das nicht auch alles Kreationen Gottes? Gerade in radikalen christlichen Kreisen wird darum auch heute noch behauptet, Opfer von Naturkatastrophen oder Menschen mit schweren Krankheiten hätten gesündigt und würden deshalb bestraft, also gibt es trotzdem Ausschuss?!
    Leistung ist per se auch nichts Schlechtes. Nur dank dem Streben nach Leistung können auch jene Überleben, die keine Leistung erbringen können. Ein System, in dem Leistung nicht honoriert wird, kann auf die Dauer nicht funktionieren.

    • Vielen Dank für Dein Feedback – ebenfalls interessant, was Du anführst! Ich gebe Dir recht, dass Leistung nicht per se schlecht ist. Wir wurden ja auch mit Gaben und Talenten ausgestattet, und die sollen wir einsetzen, trainieren, etwas daraus machen. Unsere Gesellschaft hängt auch am Einsatz derer, die leisten können, damit andere gestützt werden können. Mir kommt es nur so vor, als ob der, der nicht im „normalen“ Mass leisten kann – oder gar nicht – im Verständnis der Gesellschaft weniger wert ist und sich dann auch so fühlt, und dagegen setzte ich den Wert des einzelnen – unabhängig von seiner Leistung. Was den „Ausschuss“ betrifft: Du sagst richtig, dass Gott schon früh eingegriffen hat, und teilweise rigoros (wie bei Noah). Die Bibel spricht glaube ich aber nicht davon, dass die unschuldig waren; vor allem hatten sie eine Chance – Noah hat sie ja einige Male darauf aufmerksam gemacht, dass die Flut kommt. Dennoch hat Gott hier gerichtet, das ist wahr. Jede Naturkatastrophe als Strafe Gottes zu interpretieren, finde ich selbst auch sehr gefährlich. Dehnt sich dass auf Krankheiten aus, entsteht eine Theologie, die ich nicht unterstützen kann, die jedem, der nicht gesund wird, Sünde unterstellt. Ich halte es dabei sehr wohl für möglich, dass Dinge, die uns geschehen, manchmal mit uns und unserem Verhalten zu tun haben, aber das immer zu folgern, ist sehr unmenschlich. Es zeugt von unserem Versuch, alles zu verstehen und zu kontrollieren, und das werden wir nie.
      Wenn ich Dir zustimme, dass Gott eingegriffen hat, ist das für mich übrigens kein Hinweis darauf, dass Er Ausschuss produziert hat. Was Er geschaffen hat, war gut – Er ist aber, da Er uns einen freien Willen gegeben hat, das Risiko eingegangen, dass wir uns von Ihm abwenden und Mist bauen – was wir zuverlässig getan haben. Zum Glück ist die Geschichte da ja nicht zu Ende 🙂

      • Die Chance war dann wohl eher theoretischer Natur, auf der Arche war der Platz auf ein Paar pro Spezies beschränkt, für alle anderen gab es schlicht kein Entrinnen. Nur weil da nicht steht, dass alles was der Flut zum Opfer fiel (Menschen, Tiere und Pflanzen!) nicht unschuldig war, heisst das aber noch lange nicht, dass alles schuldig war.
        Und wie nimmst du deinen Gott bei Moses in Schutz? Gott gab Moses die Fähigkeit zehn Plagen über die Ägypter zu bringen, es war aber auch Gott, der den Pharao neunmal nicht einlenken liess. Für mich ist das purer Sadismus, hat Gott bei der zehnten Plage sogar noch selber Hand angelegt und alle erstgeborenen Menschen und Tiere(!!!) ermordet. Ich wüsste auch nicht wie ich diese Geschichten im übertragenen Sinne verstehen sollte.

  2. Ich gestehe Dir, dass ich auch nicht alles verstehe, was Gott getan hat – warum er das Herz des Pharao verhärtete und diesen Weg wählte, um sein Volk aus Ägypten zu befreien. Das Gericht der Sintflut war gewaltig, und ich bringe auch nicht immer alles zusammen, was in der Bibel über Gott steht. Manchmal, wenn ich etwas lese, eröffnet es sich mir auf neue Art, und ich habe das Gefühl, etwas mehr davon vestanden zu haben, wie Gott ist, aber alles? Darauf warte ich noch 🙂 Hingegen bin ich froh, dass mein Gott meinen Schutz nicht braucht. Hiob hat aus verständlichen Gründen auch eine Menge Anklagen gegen Gott er hoben – bis er eine wirkliche Begegnung mit ihm hatte. Danach tönte es etwas anders 🙂 Wenn wir im dann begegnen, wird er derjenige sein, der die Fragen stellt, und wir die, die sich zu verantworten haben.
    Gestern habe ich mir noch Gedanken gemacht, ob wir diesen Zorn, den der alttestamentliche Gott offensichtlich empfunden hat, in Jesus auch finden – das müssten wir ja, weil er explizit gesandt wurde, damit wir erkenen können, wie Gott ist. Ich habe aus der Erinnerung nur an zwei grössere Anlässe denken können: die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel und der Zorn Jesu über die heuchlerischen Pharisäer (und ein bisschen Zorn gegen Petrus, der ihn von seinem Autrag abhalten sollen). Das zeigt mir, dass der Zorn zu Gott gehört – aber Jesus tötet im NT niemanden. Offensichtlich hat sich da etwas geändert, als Gott seinen Erlösungsplan in die Tat umsetzte 🙂 (An allfällig anwesende Theologen: Korrekturen oder Erläuterungen gern anbringen).

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