An meinem Arbeitsplatz hängt eine altmodische Postkarte mit Holzschnitt-Motiv, darauf ein kleiner Junge mit einem riesigen Grinsen auf dem sommersprossigen Gesicht. Das Motto der Karte lautet:
„Ich freue mich immer, wenn schlechtes Wetter ist.
Denn wenn ich mich nicht freue, ist trotzdem schlechtes Wetter.“
Mitte Mai hätte ich das Ding am liebsten inklusive Grinsen von der Wand gerissen, um genüsslich darauf herum zu trampeln.
Der Frühling hatte uns offensichtlich vergessen. Seit einem winzigen Gastauftritt im März wurde er nicht mehr gesichtet; was blieb, waren Temperaturen unter zehn Grad und, fast noch schlimmer, eine konstante Wolkendecke ohne ein Fitzelchen Sonne. Es wurde April, es wurde Mai, und nichts änderte sich.
Das Phänomen war nicht auf die Schweiz beschränkt; ganz Westeuropa litt darunter. Auf Facebook erschienen Kommentare wie dieser:
„Habe heute einen seltsamen, leuchtenden gelben Ball gesehen; was das wohl war?
Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: die Sonne!“
Wenn eine Schlechtwetterperiode so lange anhält, zweifeln wir irgendwann daran, dass es je wieder besser wird. Noch schlimmer – wir vergessen fast, was schönes Wetter überhaupt ist. Irgendwann machen wir morgens den Rollladen hoch und erwarten nichts anderes als Nebel, einen Wolkendeckel und frostige Temperaturen.
Heute Morgen habe ich mit Freuden und leicht ungläubig aus dem Fenster gesehen. Blauer Himmel, Sonne, Wärme – und das seit über einem Monat. Offenbar revanchiert sich das Wetter für den – mit Verlaub – beschissenen Frühling, und man würde es nicht für möglich halten: auf dem Höhepunkt der Hitzewelle letztes Wochenende häuften sich Kommentare, es solle doch endlich mal wieder regnen. So schnell haben wir vergessen, wie uns die grauen Wochen zusetzten und wie sehr wir uns nach Sonne und Wärme sehnten.
Mir zeigt das, wie wählerisch unser Erinnerungsvermögen ist. Und diese schönen Wochen machen mir eines klar: dass die Sonne auch dann existiert, wenn wir uns kaum mehr an sie erinnern können.
Vielleicht erlebst Du im Moment trotz des Wetterhochs ein Tief von der hartnäckigen Sorte, das einfach nicht verschwinden will. Kein Lichtblick, keine Wärme – eine konstante Wolkendecke über Deinem Kopf und in Deinem Herzen. Ein Tief, dass schon so lange dauert, dass Du gar nicht mehr weisst, wie es ist, sich gut zu fühlen, und langsam die Hoffnung verlierst, dass es jemals wieder aufwärts geht. Du zweifelst daran, dass es so etwas wie gute Zeiten überhaupt gibt – und wenn, dann offenbar nur für die anderen.
Doch egal, wie dick die Wolkendecke aussieht und wie lange Du die Sonne nicht gespürt hast: sie ist da und wird sich auch Dir wieder zeigen. Und vielleicht geht es Dir dann wie dem Facebook-User, der sich zuerst fragt, was dieser komische gelbe Ball soll. Aber wenn Du die Wärme spürst, wirst Du wissen, dass es endlich aufwärts geht.
Und solange das Dunkel anhält: häng ein Bild auf, das diese guten Zeiten verkörpert und Dir Kraft gibt. Mach Dir am besten ein paar Kopien. Wenn Dich der Frust packt, kannst Du auch mal eins von der Wand reissen und darauf herumtrampeln – und dann weitermachen. Im Wissen, dass auch die dickste Wolkendecke ein Ende hat.