In meiner Kindheit war „Fasnacht“ (Karneval) eine Kombination zwischen Maskenball und „Chilbi“ (Kirchweihfest). Am Schmutzigen Donnerstag warfen wir uns in die Kostüme und zogen aufgeregt ins Stadtzentrum, und schon vom Weitem hörten und rochen wir, worauf wir uns schon wochenlang freuten: den „Rummel“.
Anstelle von Autos regierten jetzt Zuckerwattestände, Schiessbuden und Karussells den Grenchner Marktplatz. Am Rand des „Auto-Scooter“ (gut schweizerisch: „Butschi-Bahn“) standen dicht gedrängt die kichernden weiblichen Teens und suchten die Scooter nach ihrem Schulschwarm ab, während die Jungs in den Fahrzeugen möglichst spektakuläre Fahr- und Aufprallmanöver veranstalteten. Und natürlich hatte jeder Rummel eine „GROSSE BAHN“, auf die sich nur die Mutigsten trauten. Für uns Kinder war es das Schlaraffenland, das Paradies und Disneyworld in einem, und wir wären sicher tagelang Karussell gefahren, wenn unsere grausamen Mütter uns nicht irgendwann nach Hause geschleift hätten.
Seit drei Jahren wohne ich wieder in meiner Heimatstadt, und dieses Jahr habe ich es endlich geschafft, einmal über den fasnächtlichen Marktplatz zu spazieren. Doch wie so oft wirkte, was mich als Kind begeistert hatte, irgendwie blass, fade und viel kleiner. Kindliche Begeisterung lässt sich offenbar nicht einfach aufwärmen.
Das hat mich ernüchtert, aber nicht zur Verzweiflung gebracht – denn vor sieben Jahren habe ich einen Ort entdeckt, an dem ich jedes Jahr wieder zum Kind werde: Ich marschiere mit leuchtenden Augen richtig Stadtzentrum, sauge die Gerüche und Geräusche in mich hinein, bestaune die bunten Lichter und spüre das einfältige Grinsen auf meinem Gesicht. Kindliche Freude verdrängt den Alltag, und die Jahre auf meinem Buckel fallen von mir ab. Diesen Freitag geht er wieder los – der „Kalte Markt“ von Ortenberg.
2007 waren mein Mann und ich das erste Mal mit dabei, damals auf Einladung unserer Freunde Kirsten und Dirk Raufeisen – und der „Kaale Märt“ hat uns einfach gepackt. Dabei ist dieser Anlass nichts für zerbrechliche Gemüter: er dauert fast eine Woche und fordert neben einer zähen Konstitution auch eine gewisse Toleranz gegenüber Schlagermusik und Menschenmassen sowie einen unverwüstlichen Magen.
Deshalb haben wir über die Jahre eine exzellente „Kalter Markt“-Strategie entwickelt. Sie funktioniert vielleicht nicht bei allen Leuten, aber uns bereitet sie optimal auf den täglichen Marktbesuch vor. Hier die wichtigsten Grundsätze:
- Nicht vor zehn Uhr aufstehen
- Brunch mit viel Eiweiss, Kaffee und Kalorien
- Individuelles Relaxen (lesen, surfen, schlafen, Star Trek gucken)
- Ein Spaziergang, um die Partygeister zu wecken
- Ready for „Take Off“!
„Take Off“ ist übrigens wörtlich zu verstehen: zum wiederholten Mal ist diese Bahn die Hauptattraktion des Markts, bei der sich schnell ein paar G entwickeln. Zu meinem Leidwesen bin ich trotz der minutiösen Vorbereitungen, die unsere Truppe auf sich nimmt, immer die einzige, die mutig (oder verrückt) genug für dieses Vergnügen ist. Trotzdem ist es ein Riesenspass, der nicht komplett ist ohne den legendären Satz des Fahrmeisters:
„Es geht los – Ihr schaut noch gut aus!“
Neben der Fahrt auf dem „Take Off“ enthält das Marktprogramm unzählige Highlights, die man nicht verpassen sollte. Ich habe mir lange überlegt, was auf diese Liste gehört, und wahrscheinlich ist sie nie komplett. Deshalb einfach mein persönlicher Blick:
Ein Kalter Markt ist kein Kalter Markt ohne:
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Fassbieranstich in Roie’s Weindorf
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Launige Begrüssungsrede der Bürgermeisterin Ulrike Pfeiffer-Pantring
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Mindestens drei Fahrten im „Starlight“, mit der Bemerkung meines lieben Gatten: „Jetzt wird’s dann wieder schnelllll…!“
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Einen Besuch im „Mobile-Irish-Pub“
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Wahlweise eine Feuerzangenbowle oder einen Abstinenzlerpunsch
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Einen gratis Bibelkalender und schönen Karten vom christlichen Stand
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Eine Riesentüte Popcorn, eine Nürnberger Bratwurst, einen Hamburger, eine Crêpe, einen Flammkuchen, eine Tüte Magenbrot, einen chinesischen Nudeleintopf, einen Maiskolben am Stiel, …(weiterzuführen nach Gusto)
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Sonntagnachmittag und Abend im Weindorf mit Big T, dem Meister an der Hammondorgel, inklusive Finnenfeuer und nachträglicher Rauchwurst-Note in den Kleidern
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Frühschoppen am Montag im Festzelt mit trommelfelldröhnender Schlagermusik und den enthusiastischen Damen von der „Fankurve“
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Das grandiose Abschlussfeuerwerk
Doch der Kalten Markt ist viel mehr als die Summe seiner Teile. Sein Zauber liegt in der fröhlichen Atmosphäre, im Kleinstadtcharakter und in der Zugänglichkeit der Menschen. Ein passendes Beispiel dafür ist, dass mir die tollen Bilder für dieses Post von der Stadt Ortenberg zur Verfügung gestellt wurden. Und natürlich besitzen die Hessen die unabdingbare Fähigkeit, offensiv und feucht-fröhlich zu feiern und trotzdem eine gewissen „Contenance“ zu wahren.
An diesem Punkt eine wichtige Randbemerkung: Der Kalte Markt macht auch ohne Alkohol Spass – ich bin der Beweis dafür. Allerdings beweise ich damit wohl auch, dass man noch einen Tick verrückter sein muss als der Durchschnitt, um so ein Event ohne Alkohol zu überstehen. Aber es lohnt sich: ich habe nach den paar Tagen „Kaaler Märt“ zwar mehr Kilos auf den Hüften, aber definitiv weniger Ballast auf der Seele. Und ich empfehle diese Kur mit gutem Gewissen allen, die über die erforderlichen körperlichen und seelischen Voraussetzungen verfügen.
Wer jetzt neugierig geworden ist, kann sich auf der Website oder auf der Facebook-Fanseite des Kalten Markts umsehen. Und sollte es dieses Jahr nicht klappen, möge Euch das Motto trösten, das alle Marktbesucher nach dem letzten Abend wieder für ein Jahr bei Laune hält:
„Nach dem Markt ist vor dem Markt!“
Ihr lieben Hessen: Wer von Euch kennt den „Kalten Markt“, und was ist Euer Highlight?
Ihr lieben anderen: Kennt Ihr in Eurer Gegend auch solche Volksfeste, und geht Ihr hin – oder seid ihr auf solche Events eher allergisch? Ich freue mich über Euer Feedback!
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